Und Nietzsche lachte
gleichzeitig läuft nicht.
Etwas anders aber verhält es sich mit: Entweder es ist richtig oder es ist falsch. Das trifft sicher für Mathematik und Orthographie zu (und nicht nur da). Aber auch, wenn es um Entscheidungen für das Leben geht? Schon schwieriger! Und vollends kompliziert wird es bei: Entweder er ist gut oder er ist böse! Selbst bei Darth Vader funktioniert das kaum, obwohl Hollywood es uns ansonsten in dieser Hinsicht ziemlich leicht macht – leicht und fad, denn Sie wissen so gut wie ich, dass nur diejenigen Geschichten wirklich spannend sind, die keine eindeutigen Zuweisungen von Gut und Böse kennen und sich moralischer Wertungen enthalten – weil sie uns dazu einladen, sie in tragischem Licht zu sehen.
Kurz, am Ende scheint mir jener Rabbi Recht zu haben, von dem Folgendes erzählt wird: Einst kam ein Mann und fragte ihn um Rat wegen dem Kummer, den er mit seiner Frau hatte. »Es hilft nichts«, sagte der Mann am Ende des Gesprächs, »ich werde mich von ihr trennen müssen.« Der Rabbi antwortete nur: »Du hast Recht!« Da kam die Frau dieses Mannes und schüttete beim Rabbi ihr Herz aus. Sie klagte und rang die Hände, doch zuletzt kam sie zu dem Schluss: »Er darf mich nicht verlassen!« Und der Rabbi sprach: »Du hast Recht!« Die Frau des Rabbis hatte gelauscht. Nun trat sie vor ihn: »Mann«, fuhr sie ihn an, »wie kannst du diesem Mann sagen, dass er Recht hat; und gleichzeitig dieser Frau sagen, dass sie Recht hat. Ihre Reden stoßen einander vor den Kopf!« Der Rabbi schaute seine Frau voller Liebe an und sagte: »Frau, du hast Recht!«
Ich liebe diese Geschichte. Denn sie zeigt eines: Was der Verstand nicht fassen kann, nimmt die Liebe leicht ans Herz. Was der Verstand nicht gutheißen kann, bejaht die Liebe mit einem Lächeln. Warum? – Weil die Liebe anders tickt. Sie kennt keine zweiwertige Logik. Sie braucht kein Entweder-Oder. (Wenn Ihr Mann sagt: »Entweder er oder ich!«, dann spricht entgegen landläufiger Meinungen nicht die Liebe aus ihm, sondern die Angst!) Die Liebe liebt das Sowohl-als-Auch. Und sie entspricht darin der paradoxen Grundstruktur des Lebens, die aus Chaos und Ordnung, Sinn und Unsinn, Ja und Nein gemischt ist. Ein liebendes Herz kennt die innere Widersprüchlichkeit der Seelen und kann daher mit tragischem Blick auf das Tun der Menschen blicken, wo der moralisch geschulte Verstand nur Kategorien wie »richtig oder falsch« und »gut oder böse« kennt. Ja, das liebende Herz hat einen unmittelbaren Zugang zum Leben und versteht deshalb, wenn Heraklit sagt: »Eines und dasselbe sind Lebendes und Totes, Wachendes und Schlafendes, Junges und Altes: denn dies schlägt um in jenes und ist jenes, und jenes wiederum schlägt um in dieses und ist dieses.« Oder: »Der Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sattheit und Hunger.« Denn ein liebendes Herz weiß um die Verbundenheit von allem mit allem. Auch dann, wenn sie nicht offen zutage liegt. Ich komme gleich noch einmal darauf zurück.
Jetzt geht es mir erst einmal darum, Ihnen diesen Gedanken ans Herz zu legen: Die innere Wandelbarkeit, Widersprüchlichkeit und Absurdität des Lebens – dieses tragische Ineinander-verwoben-Sein von Leid und Freud, Leben und Tod, Dauer und Wechsel, Trennung und Gemeinschaft –, wir können sie nicht mit dem Verstand, wohl aber mit dem Herzen bejahen. Der Verstand mag keine Tragödien, ihm ist der dionysisch-chaotische Bodensatz des Lebens zutiefst unheimlich. Deshalb lässt er sich lieber komödiantisch unterhalten (so viel zum Boom der Comedians). Das Herz dagegen hat Sinn für Tragik. Ganz wie es der Rabbi vormacht: »X redet Stuss über Y? Y redet Stuss über X? Mir doch egal! Beide geben sie ihr Bestes! Sie tun mir leid, die Lieben!« So spricht das liebende Herz und so spricht es gerade dann, wenn es tragisch wird: »Ödipus hat seinen Vater ermordet und seine Mutter geschwängert? Macht nichts! Er war ja nicht böse, er war verblendet. Was für eine tragische Figur!« oder: »Auschwitz? Trotzdem ›Ja!‹«
Womit wir wieder bei Viktor Frankl und seinem großen »Ja!« wären. Und mir scheint, jetzt ist es an der Zeit, noch einmal den Zusammenhang in Erinnerung zu rufen, worin sich seinem Zeugnis nach das große »Ja!« an jenem eisig-grauen Wintermorgen ereignete: »Du stehst im Graben bei der Arbeit; grau ist die Morgendämmerung um dich, grau ist der Himmel über dir, grau ist der Schnee im fahlen Dämmerlicht, grau sind die Lumpen, in die
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