...und plötzlich war alles ganz anders... (Kriminalromane) (German Edition)
die alte und die junge Frau. Wie zwei Buchstützen neigten sie sich gegeneinander als wollten sie sich gegenseitig Halt geben. Das regnerische Oktoberwetter trübte die traurige Stimmung.
„Da hinten“, flüsterte die Frau und zeigte über die Gräber hinweg, „da hatte ich mir mein Grab ausgesucht.“
Sie schwieg und starrte in die angezeigte Richtung: „Bezahlt hatte ich es auch schon... Das geht ja nun leider nicht mehr. Sie machen für eine alte Frau wie mich keine Ausnahme.“
Wieder breitete sich Stille aus. Nur eine Horde sich zankender Sperlinge durchdrangen lärmend die Friedhofsruhe.
„Also werde ich mich wohl bald mit einem Platz auf dem Friedhof in der Kreisstadt bescheiden müssen.“
Stumm schüttelte Sonja Sänger den Kopf, sie brachte keinen Ton hervor. Kalte Tränen liefen ihr über die Wangen.
„Doch doch...“, sagte sie leise, „wenn man zweiundneunzig ist, dann macht man keine Pläne mehr.“
Die Kommissarin wusste nicht was sie sagen sollte. Mit zweiundneunzig macht man wirklich keine Pläne mehr. Und sie fragte sich, ob im Alter die Angst vor dem Tod einfach verschwindet. Die alte Dame..., ihre neu gewonnenen Freundin..., sie würde ihr fehlen, wenn sie einmal nicht mehr war.
Sonja Sänger glaubte nicht an Gott, an einen Schöpfer, doch sie hoffte für ihre Freundin, dass sie einen Halt hätte, einen Halt, der ihr das Sterben leichter machen würde.
Ohne Trost zu sterben, das muss furchtbar sein, dachte sie. Noch schlimmer jedoch war es, so jung zu sterben wie Maria Wagedorn es musste. Das Leben zertreten, ausgelöscht, ohne Sinn und Verstand, bloß weil ein paar dumme Jungs ihren Spaß haben wollten.
Sie hatte gehört, was sie hören wollte, erfahren, was zu erfahren war. Jetzt konnte sie getrost die Akte für sich schließen. Und manchmal, wenn sie allein sein würde, dann würde sie an Maria Wagedorn denken und an die alte Dame, die ihr Andenken über all die Jahre bewahrt hatte.
Kapitel 25
Stadelheim, 15. Juni 2003
Sechs Jahre seiner Strafe hatte Gabler bereits verbüßt. Längst hatte er verdrängt, dass er vor langer, langer Zeit auf der anderen Seite des Gesetzes stand. Seine Position im Gefängnis hatte sich gebessert, er war jetzt so etwas wie ein Kalfaktor. Er kannte die Justiz und ihre Wege von jeder Seite, konnte Ratschläge geben, Hilfestellung bieten und seinen Mithäftlingen in vielerlei Hinsicht nützlich sein. Er arbeitete in der Gefängnisbibliothek. Die Arbeit machte ihm Spaß. Gabler hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er wusste, seine Aussicht entlassen zu werden waren nur gering. Bei seiner Verurteilung hatte der Richter die besondere Schwere der Tat festgestellt und das nahm ihm jede Hoffnung, jemals entlassen zu werden.
Heute war sein vierundfünfzigster Geburtstag. Einige seiner Mithäftlinge hatten ihm eine Torte spendiert. Sogar Sonja hatte einen Brief geschrieben. Nur wenige Zeilen, in denen sie ihm gratulierte und mitteilte, das Robert Martelli vor einer Woche freiwillig aus dem Leben geschieden ist.
Etwas kitschig war sie schon, die Torte. Mit rosa Zuckerguss und einer Füllung aus Marillenmarmelade. Ihm wäre Buttercreme lieber gewesen, aber dass jemand an ihn dachte, berührte ihn doch sehr.
Längst hatten seine Mithäftlinge vergessen, dass er einmal ein Bulle gewesen ist. Nachdem er die Regeln gelernt hatte, die Wege kannte, war es gar nicht mehr so schwer sich im Knast zu arrangieren. Und es gab Tage, da fand er sein Schicksal ganz angenehm.
***
Er las viel, dachte nach und führte Tagebuch. Selbst wenn er in sieben Jahren eine Chance bekommen würde!? Was sollte er mit dann dreiundsechzig Jahren in der Freiheit anfangen? Die Lage draußen hatte sich verschlechtert, er würde keinen Job mehr finden. Das Überleben in Freiheit war härter geworden. Er las Zeitung. Es herrschte eine hohe Arbeitslosigkeit im Lande. Zudem hatte er außer Polizeidienst nichts anderes gelernt. Eine Sicherheitsfirma würde ihm keine Arbeit geben, allein schon deshalb, weil er viel zu alt war. Außerdem war er vorbestraft. Zu seiner Frau konnte er auch nicht zurück. Die war längst wieder verheiratet. Mit einem Zahnarzt, hatte er in Erfahrung bringen können. Und recht hatte sie. Die Kinder?, ihnen wollte er am allerwenigsten auf der Tasche liegen. Er würde von Sozialhilfe leben müssen. Hier im Knast hatte er sein Auskommen, sein geregeltes Leben und keine Sorgen.
Sein Urteil hatte er angenommen, auch wenn er nicht die Schuld trug am Tod von Franco
Weitere Kostenlose Bücher