Und plötzlich warst du wieder da
Aber mit einer schnellen Bewegung tauchte sie unter seinem Arm hindurch und eilte zu ihrer Wohnungstür. „Wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht.“
So schnell sie konnte, schloss sie die Tür auf, ging hinein und klappte die Tür rasch hinter sich wieder zu.
Das war knapp. Wenn sie sich nicht in Schwierigkeiten bringen wollte, musste sie sich künftig besser im Griff haben.
Am nächsten Morgen öffnete Nadia vorsichtig ihre Wohnungstür. Es war genau eine Minute nach sechs Uhr. Vorsichtig spähte Nadia auf den Flur. Das Treppenhaus war verlassen und die Tür gegenüber geschlossen.
Nadia trat hinaus und schloss die Tür leise hinter sich. Die Zeitungen ließ sie liegen. Wenn Lucas auftauchte, sollte er ruhig denken, dass sie noch im Bett lag und schlief. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Lift. Zu gern hätte sie gewusst, welche Vorkehrungen ihr Vater getroffen hatte, um zu überprüfen, ob sie die Bestimmungen des Testaments einhielt, ob sie zum Beispiel vor oder nach sechs ihre Wohnung verließ. Vielleicht lief die Überwachung über die Alarmanlage, aber die hatte Nadia ausgeschaltet gelassen. Schon die Bedienungsanleitung war seitenlang. Nadia fand es überflüssig, sich mit diesen technischen Dingen zu befassen. Der Sicherheitsdienst im Haus reichte ihr vollkommen aus.
Das leise „Ping“, das die Ankunft des Fahrstuhls verkündete, ließ Nadia zusammenzucken. Rasch betrat sie die Kabine und drückte den Knopf für das Erdgeschoss.
Unten angekommen, sprach der Mann von der Security sie freundlich an, als sie die Lobby durchquerte. „Na, Miss Kincaid, schon so früh auf den Beinen?“
Nadia zwang sich zu lächeln und hoffte, dass es keinen Alarmknopf gab, den er jetzt drückte, um seinen Herrn und Meister oben zu warnen.
„Soll ich Ihnen ein Taxi besorgen?“, fragte der Mann.
„Nein, danke, William“, antwortete sie wortkarg.
Die Pförtnerloge war die erste Hürde. Die zweite folgte auf dem Fuße. Denn wenn Nadia unter Lucas’ Radar hindurchschlüpfen wollte, musste sie die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Dazu hatte sie sich aus dem Internet das Streckennetz der Dallas Area Rapid Transit heruntergeladen und ausgedruckt. Den Plan trug sie zusammen mit ihrem Laptop in einer großen Tasche über der Schulter. Außerdem hatte Nadia einen vagen Plan, wie sie den Tag möglichst weit weg von diesem Haus und seinem Besitzer verbringen wollte.
„Wo soll’s denn hingehen so früh am Morgen?“, erkundigte sich William.
Weil sie inzwischen wusste, dass Lucas regelmäßig Meldungen von hier unten erhielt, hütete sie sich, etwas zu verraten. Sie wollte nur so schnell wie möglich fort, damit Lucas sie nicht doch noch im letzten Augenblick abfing.
„Nur ein bisschen Sightseeing. Einen schönen Tag noch.“ Damit war sie draußen und lief, so schnell es ihre Pumps erlaubten, zur nächsten Station der Straßenbahn.
Nadia fühlte sich unwohl in ihrer Haut. Sie hasste Unehrlichkeit, selbst wenn es so kleine Notlügen waren, ohne die man eben manchmal nicht auskommt.
Die schwüle Morgenluft in den Straßen und der Lärm des ersten Berufsverkehrs umfingen sie. Für Nadia war es ein Abenteuer. Nicht, dass ihr der Betrieb einer Großstadt nicht vertraut war. Aber sich in einer fremden Stadt ganz allein zu bewegen – ohne Chauffeur, ohne Freunde –, war sie nicht gewohnt.
Die erste Stufe ihres Plans sah vor, einen Platz zu finden, wo sie einen Kaffee bekam und sich die Zeit vertreiben konnte, bis die öffentliche Bücherei aufmachte. Das war ihre nächste Station. Eine öffentliche Bücherei . Wenn sie früher in einer fremden Stadt die Zeit hatte totschlagen müssen, war Nadia shoppen gegangen. Aber das gab ihr Budget nicht her. Auch wenn sie sicher war, das ihr niemand folgte, tauchte sie so schnell wie möglich in einer Menschentraube unter, mit der sie die Straße überquerte.
Wie lange war es her, dass ihr Mann „von den Toten auferstanden“ war? Sechzig Stunden höchstens. Doch sogar in dieser kurzen Zeit war ihr deutlich geworden, dass Lucas sich verändert hatte. Im Gegensatz zu früher war er längst nicht mehr bereit, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Er hatte seinen Willen und eigene Pläne, das merkte sie genau. Aber sie wollte auf keinen Fall Teil dieser Pläne sein. Das Einzige, was sie von ihm wollte, war die rechtsgültige Scheidung. Und damit schien er es nicht besonders eilig zu haben.
Nadia musste eine Weile die anderen Fahrgäste beobachten, bevor sie herausgefunden
Weitere Kostenlose Bücher