Und raus bist du: Kriminalroman (German Edition)
wieder zurück. »Was möchten Sie wissen?«
»Ich möchte wissen, wie viele Mitglieder die Familie 1961 hatte.«
Krampfhaft presste er das Telefon ans Ohr, mit dem seltsamen Gefühl, dass ihre Antwort alles auf den Kopf stellen würde.
»Mal sehen ... Da haben wir ihn ... Eine echte Kernfamilie: Mutter, Vater und zwei Kinder.«
Sjöberg hatte das Gefühl, als würde sein Herz einen Schlag aussetzen.
»Ich und ...?«
»Alice Eleonor, geboren am dritten Oktober 1955.«
»Gestorben ...?«
»Da muss ich in ein anderes Buch schauen. Einen Augenblick ...«
»Gestorben am zwanzigsten August 1961.«
»Jetzt werde ich Sie nicht weiter stören. Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Sjöberg und beendete das Gespräch, ohne ihre Antwort abzuwarten.
Es war mehr, als er sich jemals hätte vorstellen können. Er hatte eine drei Jahre ältere Schwester gehabt, die wie ihr Vater durch das Feuer ums Leben gekommen war. Die Großmutter hatte sie gar nicht erst erwähnt. Ihre Trauer galt allein dem Verlust des Sohnes. Vernünftigerweise konnte man davon ausgehen, dass seine Mutter zuerst versucht hatte, den Vater und die Tochter zu wecken, und dann gezwungen war, sich darauf zu verlassen, dass sie sich aus eigener Kraft aus dem Haus retten konnten. Was war in einer Notsituation selbstverständlicher, als das jüngste Kind zuerst zu retten und zu hoffen, dass das ältere Kind es aus eigener Kraft schaffte?
Sjöberg versuchte, sich in die Situation seiner Mutter hineinzuversetzen und die unfassbare Trauer nachzuvollziehen, die sie ergriffen haben musste. Aber etwas in ihm sträubte sich dagegen, wollte ihn nicht näher an die Vergangenheit heranlassen. Das neue Wissen über seine Schwester und ihren grausamen Tod wurde übermächtig, und er fühlte sich plötzlich außerstande, die frischen Eindrücke zu verarbeiten. Ohnmächtig beschloss er, seine persönlichen Grübeleien eine Weile auf Distanz zu halten, sie in die Zukunft zu verschieben, um sich allein Einar Erikssons Tragödie widmen zu können.
Er fühlte sich unendlich müde, dennoch versuchte er, in seinen Gedanken die vier erwachsenen Menschen wieder zum Leben zu erwecken, von denen jeder auf seine Weise von dem Unfall am Fluss in Arboga vor langer Zeit betroffen war. Wenn er in der Haut des Ehepaares Larsson gesteckt hätte, was hätte er getan, um das Leben weiterleben zu können? Neue Kinder bekommen? Er wusste es nicht. Kinder sind nicht austauschbar, aber vielleicht hätte ein neues Kind die Gedanken von den verlorenen Jungen ablenken können, zumindest zeitweise? Christer Larsson hatte nach vielen Jahren wieder zwei neue Kinder bekommen, aber was hatte es ihm geholfen? Offensichtlich hatte er zu den neuen Kindern keine gefühlsmäßige Bindung aufbauen können, für ihn war es also kein erfolgreiches Konzept gewesen. Ganz abgesehen davon, dass er unter dramatischen Umständen auch diese neuen Kinder verloren hatte, war ihm seine neue Familiengründung nicht geglückt.
Sjöbergs eigene Mutter hatte auch ein Kind verloren. Dieser Gedanke wollte ihn trotz aller Bemühungen nicht loslassen. Sie hatte noch ein Kind und hatte sich damit zufriedengegeben. Die Voraussetzungen waren nicht dieselben wie bei einer Frau, die ihr einziges oder alle ihre Kinder verloren hatte.
Ingegärd Rydin? Sjöbergs begrenzte Erfahrungen mit Frauen, die ihre Kinder verloren hatten, sagte ihm, dass sie den Verlust entweder akzeptierten und weiter kinderlos lebten oder dass sie versuchten, die Leere so schnell wie möglich mit einem neuen Kind zu füllen. Ingegärd Rydin hatte sich vom Leben zu zweit verabschiedet und damit auch von der Möglichkeit, neue Kinder in die Welt zu setzen. Aber konnte er sich da sicher sein? Ihm wurde bewusst, dass er sehr nachlässig ermittelt hatte, was sie betraf. Er hatte ihren Namen und ihre Adresse ausfindig gemacht, er wusste, dass sie einmal mit Christer Larsson verheiratet gewesen war und dass sie nach der Scheidung nicht wieder geheiratet hatte. Was er von ihr wusste, war das, was er mit eigenen Augen gesehen hatte und was ihm die beiden Polizeiinspektoren Möller und Edin erzählt hatten. Mehr herauszufinden hatte er sich nicht bemüht, weil er sie aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands gleich von der Liste der Verdächtigen gestrichen hatte. Die Frage, ob sie nach dem Verlust ihrer beiden Söhne noch weitere Kinder bekommen hatte, hatte er ihr nicht gestellt. Sjöberg verfluchte seine Voreingenommenheit, zog noch einmal das Telefon aus der
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