Und sie wunderten sich sehr
so dick oder sieht sie nur so aus?« »Sie ist so dick.« Das war die elterliche Antwort. – Als sie starb, wog sie keine 40 Kilogramm mehr.
Rosas Mann hatte dieser Geschichte noch einen Satz hinzugefügt: »Du bist eben auf raffinierte Weise kompakt.« Das Stigma ihrer Kindertage blieb der Erwachsenen erhalten, zumindest was die Schönheitswerte anging: Ein bisschen zu rund, zu burschikos in der Erscheinung, ein bisschen zu sehr »zweite Wahl«. Auch das Urteil »zweite Wahl« hatte ihr Mann öfter zum Besten gegeben. Sie konnte darüber nur höflich die Mundwinkel ziehen. Kann man einen solchen Makel, denn so fühlte er sich an, durch makellose Umgangsformen ausmerzen? Lange schien das zu helfen. »Korrekte und diskrete Umgangsformen sind mein seelisches Geländer«, hatte sie Cornelia erzählt.
Im Grunde war Rosas Geschichte nicht besonders spektakulär. Ein Dutzendschicksal, könnte man sagen. Aus dem 50er-Jahre-Mief ihres Elternhauses in einer hessischen Kleinstadt hatte sie sich in die freiere Universitätsstadt gerettet. Was den Eros dieser Stadt für sie ausmachte, begriffen damals weder die Mutter noch der Offiziersvater. Viel schienen sie von ihrer Tochter ohnehin nie begriffen zu haben.
Das Studium der Geschichte stieß für sie die Türen weit auf, wenn auch nur die Türen einer Provinzuniversität.
Ihr erster Freund kam aus einer singenden, nicht schlagenden Verbindung; ihr war das egal. Sie interessierten sich für die politischen Hoch- und Tiefpunkte irgendwo zwischen Kaltem Krieg und Prager Frühling. Vereint im Protest |53| gegen die kleingeistig-bigotte Lebenshaltung der Herkunftsfamilien.
Geschichte wie Geschichten; beides verband das junge Paar. 40 Jahre würden sie Zeit haben, um herauszufinden, dass sie sonst nicht viel verbindet. Es war die Zeit, in der man noch heiraten musste, wenn ein Kind erwartet wird. Das taten sie – nicht überstürzt, aber doch zügig.
»Wenn ich 15 Jahre später gelebt hätte, wer weiß, den Kinderpart hätte ich mir wahrscheinlich ersparen können.«
So schlimm?
»Nein, aber zu meinem Glück wäre es nicht notwendig gewesen«, Rosa hatte abgewiegelt, wenn es auf dieses Thema kam. Jedenfalls wäre sie wohl früher aus ihrer Ehe ausgestiegen. Mit all ihren unerwiderten Gefühlen hätte sie sich ohnehin immer gefühlt wie dieser Engländer, der in Geldnot kommt. Er hat nur einen 10 0-Pfund -Schein und keiner ist in der Nähe, der wechseln kann.
Aber wegen der Kinder müsse man zusammenbleiben, das war Rosas Motto.
Die Tochter suchte gleich mit 18 Jahren das Weite, auch in einer Ehe. Der Sohn, Robert, übernahm die Rolle des Familiensonnenscheins. Seine Talente lebte er in Großbritannien aus. Einen Studienabschluss und eine englische Ehefrau brachte er mit nach Hause.
Beides steckt in der Box namens »89«. Wenn einer für gute Nachrichten sorgen konnte, dann Robert, die Familiensonne. Hätte Inga jemals diesen unvollendeten Brief erhalten. Nach dieser Zeile hätte sie wohl geahnt, dass die gute Nachricht, von der Rosa schreiben wollte, mit Robert zu tun haben musste.
Cornelia steht schon wieder am Schreibtisch und streicht über das Briefpapier mit der vertrauten Schrift. Wie kann jemand gute Nachrichten verfassen, der die ersten vier Wochen Chemotherapie und künstliche Ernährung hinter sich hat? Wie kann jemand, dessen Diagnose lautet »Linderung, nicht Heilung«, gute Nachrichten aufschreiben, in |54| einen Umschlag stecken und verschicken? Rosa konnte das mit dem Mut einer Offizierin, mit Geist und ein bisschen Witz. Und sie interpretierte ihre Diagnose auf ihre Weise: »Wenn ich erst mal wieder runter bin von der Astronautennahrung an der Strippe, dann kann ich auch zu Robert reisen.«
Robert hatte mit seiner Frau im achten Ehejahr einen zweijährigen Jungen adoptiert. Aowen verbrachte die ersten zwei Jahre seines Lebens in einem lieblos durchorganisierten Waisenhaus in Chinas Süden. Kurse an Wochenenden zur Vorbereitung dieser Adoption im Ausland, dann die Reise nach China, zuvor die monatelangen Verhandlungen, erste Anbahnungen mit Foto und Briefen, schließlich das erste Treffen, die Übergabe im Waisenhaus, die erste Nacht gemeinsam in einem Hotel, der Heimflug, all dies wurde detailliert für Freunde, Bekannte und Familie per Internetblog mitgeteilt. An die computerlose Rosa gingen die Adoptionsdetails immer per Post und Telefon.
Die von sich selbst sagte, dass für sie Glück auch ohne Kinder denkbar gewesen wäre, war mehr als euphorisch
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