Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
Vom Netzwerk:
mit unbekanntem Ziel. Wieder musste man Angst haben, die falschen Worte könnten einem aus dem Mund schlüpfen … Wilhelms Eltern hatten die letzten Habseligkeiten schon verteilt – unter der Hand, damit nicht die falschen Nachbarn Wind davon bekamen, was geplant war. Die Eltern und sechs Geschwister von Wilhelm mussten einzeln und nacheinander, auf jeden Fall aber getrennt fahren, damit wirklich kein Nachbar Verdacht schöpfte. Das Weihnachtskonzert würde ohne den schwer verliebten 1 7-jährigen stattfinden, aber das wusste in den Minuten vor Konzertbeginn nur er, noch nicht einmal seine erste Freundin, geschweige denn der Chorleiter.
    »Ich komme nach …«, flüsterte sie nach dem Konzert in der vollen, dämmrigen Kirche. Der leere Platz bei den Männerstimmen hatte ihr das Singen vergällt. Sie hatte sofort begriffen, er fehlt nicht einfach so. Schon musste er unterwegs sein. Sonst war Barbara wirklich nicht eine der Schnellsten und Hellsten, aber hier standen ihr die Dinge klarer vor Augen, als ihr lieb war.
    »Ich kann doch auch eine Ausbildung im Westen machen; wir werden uns dort treffen. Bis dahin halten wir Kontakt.« Das hätte sie ihm gern noch gesagt. Dazu war keine Gelegenheit mehr.

    |60| Natürlich war sie damals nicht nachgekommen. Wohin auch hätte sie kommen sollen? Es gab keinen einzigen Brief oder Anruf mehr. Natürlich hatten ihr der Mut und die Unterstützung der Eltern für das Kofferpacken gefehlt. Natürlich hatte der Pragmatismus irgendwie gesiegt und auch ihre Sehnsucht irgendwann eingeschläfert. Natürlich hatte sie sich eingerichtet in der beschaulichen Welt der DDR, in der man besser nicht zu viel von dem befragte, was über die alltäglichen Sorgen hinauslangte. Weihnachtskonzerte hat sie – zumindest selbst singend – nicht mehr besucht.
    Wie beiläufig schien es sich ergeben zu haben, dass sie einen anderen Mann kennen lernte, heiratete und Kinder bekam, ihren Beruf nicht mochte und schließlich 15 Jahre vor dem Ruhestand ihren allerletzten Arbeitstag hatte. Dann war der Betrieb in Anklam dicht, und Barbara fühlte sich alt und nutzlos; verwitwet war sie ohnehin schon seit kurzem. Sie nahm es hin und kümmerte sich um ihre Enkel. Die wohnten mittlerweile in der großen Stadt Berlin – drei Stunden Fahrtzeit entfernt. Irgendwann waren diese Enkel der willkommene Grund, die kleine Stadt zu verlassen und nach Berlin zu ziehen. Nach 62 Jahren wandte sie dem Ort an der Peene das erste Mal den Rücken zu.
    Die Enkel brauchten sie allerdings dann doch nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte. Also begann sie, die Zeit mit Briefen zu füllen, die sie an alte Freundinnen in Anklam schickte. Hin und wieder fuhr sie dorthin und brachte das Grab von Eltern und Mann in Ordnung, lief an der alten Wohnung vorbei, traf mal die eine oder andere ehemalige Nachbarin. Eine von ihnen erzählte ihr, dass Wilhelm zu Besuch gewesen war. Nach mehr als einem halben Leben!

    Wilhelm hatte damals ebenfalls geheiratet. Aber nach dem Tod seiner Frau wollte er doch wissen, ob sein altes Anklam noch irgendwas in ihm zum Klingen bringen würde, was vielleicht noch beim Alten war und was bis zur Unkenntlichkeit verändert.

    |61| »Einer von denen, die damals verschwunden sind Richtung Westen«, sagte die gesprächsfreudige Nachbarin. Na klar erinnerte sich die aus Berlin angereiste Barbara, wer Wilhelm war, ihr Wilhelm. »Er hat sich hier eine kleine Wohnung gekauft und will öfter kommen«, wusste die Nachbarin zu erzählen, als Barbara das nächste Mal zu Besuch in Anklam war. »Und er hat sich nach dir erkundigt.«

    Barbara begann, über ihren Forscherdrang zu staunen, fand aber seine Adresse heraus, schickte ihm einen kurzen Brief, nicht ohne ihm ein taschentuchgroßes Foto mit schwarzen und weißen Konturen in den Briefumschlag zu legen: Ein Foto von der einzigen Chorfahrt, die sie zusammen erlebt hatten. Man erkennt darauf seine freundliche Augenpartie, als ob er lächelt, selbst wenn es nichts zu lächeln gibt. Wie er jetzt wohl aussah, der Wilhelm?
    Noch mehr staunte Barbara, als sie Post von Wilhelm bekam. Er schlug ein Treffen in Berlin oder Anklam vor. Überallhin würde er jedenfalls kommen und gern mit ihr über die Zeiten auf dem Foto sprechen.

    Barbara lädt Wilhelm nach Berlin ein, zum Konzert in die Philharmonie. Sie freut sich auf die Cantate pour le temps de Noel und das Christus-Fragment aus Mendelssohns letztem Lebensjahr. Ihre Vorfreude auf Wilhelm ist vielfach größer. Als er da

Weitere Kostenlose Bücher