Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
Vom Netzwerk:
in ihrer Nähe war.
    Aber Rosa hatte auch was zu sagen. Kaum ein Tag, an dem sie nicht gut informiert war: Nachrichten waren ihr täglich Brot. Schon in ihrem alten Leben hatte sie ihre Zeitung – das wichtigste Dokument des Tages – noch im Morgenmantel aus dem Briefkasten gefischt. Eine Gewohnheit, |50| die sie auch als älter gewordene Frau beibehielt. Am Schreibtisch sortierte sie sich aus den Tages-, Wochenzeitungen und Magazinen Seite für Seite, was ihr wichtig und aufhebenswert schien. Die Verwaltungsbeamtin, die in ihr steckte, konnte da richtig aufblühen.
    Für die wichtigsten Freundinnen, die beiden erwachsenen Kinder und den Exmann wurden praktische Bürokörbchen eingerichtet. Je nachdem, wen was interessieren könnte, wurden die Artikel und Ausschnitte, Bilder und Karikaturen in diese Körbchen sortiert und später per Post verschickt.
    Wie oft hatte auch Cornelia Info-Post dieser Art bekommen. Seltsam, dass es sich anfühlte, als sei das Jahre her. Tatsächlich handelte es sich doch um nur wenige Wochen. Die Gegenwart der unbehausten Wohnung holt sie wieder ein:

    Die Kisten der verstorbenen Freundin sind nach Jahreszahlen sortiert. Das scheint Cornelia praktisch zum Erinnern, nicht aber um den Überblick zu behalten über das, was man hat, was man sucht, was man vielleicht noch einmal gebrauchen könnte.
    Die älteste Kiste zeigt die Zahl 63. Da muss die Freundin schon verheiratet gewesen sein, hatte ihr Studium zwar abgeschlossen, sich dann aber doch von der Geschichtswissenschaft verabschiedet. Es musste rasch ein Beruf erlernt werden, bei dem sie etwas Geld verdienen konnte. Am besten könnte sie als Grundschullehrerin in dem kleinen Ort beginnen, in dem ihr junger Ehemann sein Referendariat absolviert, dachte sie. Wie sehr sie die Situation mit 33 Kindern in einem Klassenraum einmal fürchten würde, ahnte sie nicht einmal. Noch Jahrzehnte später konnte Rosa in einer Anschaulichkeit über das permanente Gefühl der Überforderung sprechen, als wäre es gestern gewesen.
    Eine der alten Postkarten ganz auf dem Boden der Kiste namens »63« gibt Auskunft über einen Schwiegerelternbesuch zu Weihnachten. Es ist seltsam wie sich diese Fundstücke |51| in die Geschichten flechten, die Rosa ihr in den Jahren der Freundschaft anvertraut hat.
    Die Schlinge kann sich immer noch ein bisschen enger zuziehen: Rosas Widerwille an Weihnachtstagen war Cornelia hinlänglich bekannt. Weihnachtstage sagten der damals jungen Ehefrau und Lehranfängerin so gut wie gar nichts. Sie schepperten ihr höchstens im Ohr – die schrille Stimme der Schwiegermutter, die Zwischenbemerkungen der Schwägerin. Für die kleinen Kinder fuhr sie allerdings in geradezu soldatischer Selbstdisziplin das gesamte Programm auf. Weihnachten aus dem Bilderbuch. So etwas machte sie sehr gewissenhaft, preußisch akkurat. Da kam die Offizierstochter durch. Später, als sie Cornelia davon erzählte, schüttelte sich Rosa regelrecht, wenn sie sich an diese Würstchen-Kartoffelsalat-Weihnachtsstunden erinnerte. Warum sie die Karte wohl aufgehoben hatte?

    Die Kiste mit dem Aufdruck »75« gibt etwas umständlich, aber liebevoll hergestellte Kindersterne preis. Da wohnte die Familie wohl schon in der Großstadt. Rosa hatte den verhassten Lehrerberuf gegen eine Ausbildung bei der Bundesverwaltung eingetauscht. Die Ausbildung kostete zwar zunächst mehr, als sie einbrachte, aber mittlerweile verdiente der Mann schon so viel als Justiziar, dass sein daraus resultierendes Selbstbewusstsein das Familienklima spürbar freundlicher machte.
    Er konnte ihr sogar ein Auto schenken, weil sie zur Ausbildung täglich zweimal fast die gesamte Stadt durchfahren musste.
    Das wahrscheinlich erste Bild mit Auto und Dame liegt in der Kiste ganz unten. Rosa hatte ihr das Foto schon einmal gezeigt. Cornelia erinnert sich noch deutlicher als ihr lieb ist daran, denn beim Wegpacken damals rutschte der älteren Freundin ein bitterer Halbsatz hinter dem Foto her: »Da hatte er gerade seine erste Affäre begonnen.« Kann man so etwas anders als schweigend kommentieren?

    |52| Ob es im Jahr der Kiste »79« auch eine Affäre gab? Ein paar Urlaubsfotos, eine Urkunde über die Teilnahme bei einem Marathonlauf. Der Name von Rosas Sohn steht darauf. Das und noch ein paar andere Details bringt die »79« zum Vorschein. Beim Anblick eines nicht sehr vorteilhaften Fotos fällt Cornelia eine der wenigen Episoden ein, die Rosa aus Kindertagen erzählt hat: »Eure Kleine, ist die

Weitere Kostenlose Bücher