Und sie wunderten sich sehr
über jede Neuentwicklung in der Geschichte »Aowen«. Er wurde schon aus der Ferne der ganze Stolz der Großmutter, als die sich Rosa nun entdeckte.
»Wenn ich die Morphiumpflaster nicht mehr brauche und wieder mobiler werde, dann fliege ich zu den dreien.«
Robert liebt seine Mutter zu sehr, und diese Liebe hatte zu viel Taktgefühl, als dass er ihr in diesem Punkt widersprochen hätte.
Wenige Wochen nach der Adoption fuhr darum die junge Familie zu Rosa. Da kannte die neue Großmutter ihre Bauchspeicheldrüsenkrebs-Diagnose schon drei Monate. Noch weitere drei Monate würde sie leben können.
Draußen fielen die ersten Septemberblätter von den Bäumen; die Tage waren warm und golden.
Und Rosa träumte von Weihnachten, von einem gemeinsamen Weihnachtsfest mit Aowen, der aus Gründen der Einfachheit Owen genannt und fast maßlos geliebt |55| wurde. Ausgerechnet Weihnachten? Wie merkwürdig, dass die alten, stickigen Weihnachtserinnerungen wie weggefegt schienen, so muss sich Cornelia im Nachhinein immer noch wundern. Mit Owen sollte es anders werden.
Robert hatte zuerst die Idee. Keiner konnte wissen, ob Rosa den Heiligen Abend noch erleben würde. Laut sagte er damals: »Falls du dich am 24. Dezember schlechter fühlen solltest als heute: Lass uns doch jetzt Weihnachten feiern – für dich, für Owen, für uns alle.«
Gesagt, getan: Die Weihnachtskiste wurde aus der Abstellkammer geholt, ein Bäumchen im Topf besorgt, der Exmann eingeladen. Auch er hatte ja einen neuen Enkel … »Aber bitte keine Pute auf die Festtafel«, kommentierte er die Einladung. Auch Cornelia war als gute Freundin eingeladen.
Das Weihnachtsoratorium wurde aufgelegt, Geschenke gekauft. Rosa bekam einen neuen DV D-Player . Da sie sich derzeit »ein bisschen weniger bewegen« könne, kaum noch ins heiß geliebte Theater, ins Kabarett und ins Café käme, wäre das doch eine gute »Überbrückung«.
Owen war hingerissen vom Ritual mit dem Glöckchen, von den Holzengelchen – und alle Erwachsenen im Raum waren hingerissen von Owen. Draußen ging die Sonne unter, die Lichter wurden angesteckt, Weihnachtsfotos von Robert und seiner Schwester gezeigt. Rosa strahlte. Sie bat um Entschuldigung, dass sie nichts essen könne.
Allen war klar, wie unwahrscheinlich es sein würde, dass Rosa noch einmal Weihnachten feiern könnte. Es war ein letztes Mal. Weihnachten im September. Nur zwei Monate liegt das zurück. Cornelia sieht sie alle noch um den großen Tisch am Fenster sitzen.
Aber jetzt in der Dämmerung des Adventssonntags gespenstert Cornelias Erinnerung über die schon verwaisten Möbel im Raum. »Die gute Nachricht zuerst: Ein Kind ist Teil unserer Familie und stellt alles und alle auf den Kopf.« |56| Das wäre die nächste Briefzeile gewesen. Rosa wird danach keinen einzigen Brief mehr geschrieben haben …
Zu Hause konnte sie nicht mehr lange bleiben. Ende Oktober wurde sie zur Notaufnahme ins Krankenhaus gefahren.
Als Cornelia die SM S-Nachricht aus dem Hospiz erhielt, waren alle Blätter von den Bäumen gefegt. Der November hatte sich gerade von seiner grausigen Seite gezeigt. Noch im Hospiz sagte Rosa, sie wolle nur ein bisschen »aufgepäppelt werden«. Aber die Nachricht »Rosa hat es geschafft« meinte nicht, dass sie wieder »aufgepäppelt« war.
Die gute Nachricht zuerst? Daran, dass Rosa »es geschafft hatte«, konnte Cornelia nichts Gutes mehr erkennen. Hatte die Freundin doch gerade erst begonnen, ihr Leben für sich zu gewinnen, es selbst zu gestalten. Und dann streicht der eigene Körper ihr diese Lebensliebe durch! Obwohl – das stimmt nicht, er hat es nicht ganz geschafft, der Körper. Geliebt hatte Rosa ihr Leben bis zum Schluss, auch wenn die Organe sie im Stich ließen – mit 62 Jahren.
Der erste Schnee beginnt zu fallen. Die Schneeflocken erreichen das Fenster des achten Stockwerks und Cornelia möchte ihrer toten Freundin noch ein letztes Mal widersprechen: »Ein Leben lässt sich nicht in Schachteln wegsortieren und entsorgen, Rosa!« Bleibt nur die Frage: Welche Erinnerungsstücke gehören wohin?
»Die gute Nachricht zuerst.« Diese Nachricht auf den leeren Zeilen des Briefpapiers. Hoffentlich war es Rosas Lieblingsgedanke. Daran jedenfalls möchte sich Cornelia von nun an erinnern, wenn sie sich an Rosa erinnert. Und sie packt den Lieblingsgedanken in eine Kiste ohne Jahreszahl und malt ein »Unendlich«-Zeichen darauf.
|57| Nachkommen
Dann öffneten sie ihre Schätze.
Matthäus 2,11
In der
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