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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
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Zwischenruf kaum hörbar, die Metapher der Liebe könne sich abnützen oder werde hemmungslos trivialisiert.
    Sie zu erfahren ist Mittel zum Leben – vom ersten Atemzug an. Dass dieses selbstverständliche Dazugehören bei weitem für viele Menschen nicht die Wirklichkeit abbildet, davon erzählen die folgenden Geschichten auch. Erloschene Liebe und Begegnungen in Lieblosigkeit werden nicht verschwiegen. Diese Leerstelle der Wirklichkeit kann nicht durch ein verkündigtes göttliches Liebeskompensat aus der Welt geräumt werden. Der abstrakte Gedanke der göttlichen Liebe wird nicht die fehlende menschliche Liebe oder das, was an schmerzhaften Spuren von Liebesunfähigkeit hinterlassen wird, aufheben. Gottes Liebe ist kein fernes Prinzip, das in die Höhen und Tiefen menschlicher Begegnungen implantiert werden könnte. Stattdessen halten die folgenden Geschichten jenseits von Sternenzauber, Myrrheduft und Weihnachtseinsamkeit offen, wie sich Gott tatsächlich jedem Einzelnen vertraut machen kann. Wenn sich in Beziehungen der Liebe einer dem anderen vertraut macht, entsteht zwischen ihnen ein Schöpferisches, ein neuer Raum, der gestaltet und gehalten werden will.
    Diese schöpferischen Räume der Liebe haben manchmal die Gestalt einer Zwei-Zimmer-Wohnung, sind vielleicht |48| nicht größer als die Bühne des Krippenspiels oder spannen einen Bogen über Tausende von Flugkilometern. Diese schöpferischen Räume halten sich noch nicht einmal an die Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie haben ihre eigene Zeit und ihre eigene Zeitrechnung.
    Ein Christbaum im September
    Während sie dort waren,
    kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft,
    und sie gebar ihren ersten Sohn.
    Lukas 2, 7a

    »Liebe Inga, die gute Nachricht zuerst: …«, der Brief liegt angefangen auf dem sorgfältig aufgeräumten weißen Damen-Schreibtisch. Cornelia streicht vorsichtig über das edle Papier mit dem Blütenornament. Er ist nicht zu Ende gebracht, dieser Brief. Wer weiß, was die Schreiberin abgelenkt hatte? Ob die Kraft schon nicht mehr ausreichte? Übelkeit oder Erschöpfung? Müde war sie zum Schluss ohnehin – schon nach der kleinsten Anstrengung.
    Wie schön ihre Schrift war. Gut lesbar, vorsichtig geschwungen. Einen Computer hatte sie nicht. Der hätte in die ansonsten moderne Wohnung bequem hineingepasst. Aber selbst wenn man mit Anfang 60 aus dem gemeinsamen Haus mit den wuchtig-stilvollen Möbeln und der 40 Jahre alten Ehe auszieht, eine neue Wohnung einrichtet, leicht, hell und ohne jeden Ballast, endlich mal in der Mitte der Stadt, nicht am bieder-etablierten Stadtrand, dann heißt das noch lange nicht, dass man sich auch einen Computer zulegen muss. Oder? Cornelia hatte die Stimme ihrer Freundin gut im Ohr.
    Ja, Rosa war eigen und absolut, wenn es darum ging, eine klare Position mit einer, vielleicht auch zwei stichhaltigen Begründungen in den Raum zu stellen. Nach zweimal |49| 20 Ehejahren und zweimal zwei gescheiterten Versuchen, mithilfe von Tabletten für immer einzuschlafen, und nach zwei großgezogenen Kindern wollte sie es noch einmal wissen. Akkurat und sortiert, wie sie nun einmal erzogen war, organisierte sie sich ein neues Leben – und legte sich so etwas wie ein glückliches Singledasein zu. Da war sie 62. Zwei Weihnachtsfeste später ist sie tot.

    Cornelia spürt noch immer Rosas Gegenwart in der Wohnung im achten Stockwerk über den Dächern von Berlin-Mitte. Sie soll Rosas Wohnung auflösen. »Eine gute Freundin muss das tun«, so hatte Rosa es sich gewünscht, als sie noch bei Bewusstsein war.
    Das Fenster, aus dem Cornelia jetzt schaut, ist bis auf den Fußboden heruntergezogen, ein »Hauch von Luxus«, hatte Rosa beim Einzug gemeint.

    An diesem Fenster hatte sie die ersten Wochen ihres neuen Lebens immer wieder gestanden, sprachlos begeistert, fast ekstatisch: »Nicht zu glauben, aber meine erste eigene Wohnung. Und dann so was Schönes!«
    Rosas Nachbarn waren Politiker oder sie verwalteten die Politik. Sie wohnte im Viertel der Bundestagsabgeordneten und teilte sich den Concierge mit Menschen, die man sonst eher aus dem Fernsehen oder der Zeitung kennt. Mit dem einen oder der anderen hielt Rosa unten am Mülleimer öfter mal einen kleinen Schwatz zur Lage der Welt. Sie schien geboren für den Small Talk. Nie plump. Mit Charme konnte sie noch jeden gewinnen.
    Cornelia fühlt die Wärme dieses Charmes noch immer – ohne jede Künstlichkeit, ohne jede Anstrengung, eine Wohltat für jeden, der

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