Und sie wunderten sich sehr
höchsten Etage des Hochzeitshauses – über den Dächern der Stadt – wird auf mehreren 100 Quadratmetern das Tanzen zwar nicht im Crashkurs, aber doch ziemlich fix geübt. Jede Woche ein neuer Tanz, damit die Paare nach ein paar Monaten tatsächlich nicht nur anständig heiraten, sondern ihren Gästen auch einen ordentlichen Paartanz präsentieren können. Zwischen den jüngeren einerseits und nicht mehr ganz so taufrischen Brautpaar-Tanzschülern andererseits ist auch ein Paar, dass dreimal so alt sein könnte wie die Mehrzahl der Besucher. Sie sind nicht besonders elegant, eher sehr bescheiden gekleidet, aber sie sehen so aus, als hätten sie sich sehr genau überlegt, was sie an diesen Tanzstunden-Abenden tragen könnten.
Das weiße kurze Haar, sowohl bei ihm als auch bei ihr, ist ordentlich gekämmt und geschnitten. Er hält sie auch in den Tanzpausen vorsichtig an der Hand, als könne sie umfallen, wenn er nicht in Handkontakt ist. Schüchtern und zurückhaltend bleiben sie während der gesamten Zeit. Unübersehbar unsicher werden sie, wenn schnelle Rhythmen schnelle Schritte abverlangen. Manchmal reden sie ein bisschen plattdeutsch miteinander. Es ist rasch klar, dass sie beide irgendwo von der Küste stammen. »Da ist man nicht so schnell«, lächelt sie ein bisschen verlegen, wenn sie vereint und unfreiwillig den Lehrbetrieb aufhalten. Sie sind keines der Paare, die jede Szene ihrer bevorstehenden Hochzeit vorbereiten wie ein Drehbuch, das monatelang entworfen werden muss. Die beiden Älteren sind aus anderen Gründen hier. Und sie bemühen sich, wenn auch ein bisschen umständlich, mit den anderen Tänzern mitzuhalten. Tapfer lassen sie sich duzen, wie es alle hier tun: Wilhelm und Barbara.
Sie haben den größten Teil ihres Lebens gelebt. Jetzt |58| scheinen sie jede Minute zur Kostbarkeit zu machen. Stilles Glück im Herbst.
Erst viel später sollte klar werden, welche Geschichte sie mit- und ohneeinander geschrieben hatten.
Das erste Mal begegneten Wilhelm und Barbara sich schon als Kinder: auf einem kleinen Schulhof des Städtchens Anklam. Kriegstage waren es – eine denkbar ungünstige Zeit für zarte Freundschaftsversuche. So verloren sich beide aus den Augen, noch ehe sie sich richtig gefunden hatten.
Erst drei Jahre nach Kriegsende sind sowohl Wilhelm als auch Barbara, damals 17- und 1 6-jährig , mehr zufällig als geplant bei einer Chorfahrt dabei; sie singen – gegen den Mangel, gegen die Trostlosigkeit, gegen all den Schutt, der noch auf den Straßen ihrer Heimatstadt Anklam liegt. Die Proben für das erste Weihnachtskonzert nach langer Kriegspause beginnen in der einzig erhaltenen gotischen Backsteinkirche am Ort. Es wird den ganzen Tag gesungen, geübt in kleineren und größeren Gruppen. Abends wird getanzt, heimlich, und nur dann, wenn der einzig verfügbare Radiosender ein bisschen Tanzmusik bringt. Der Chorleiter sieht es natürlich nicht gern, wenn die jungen Sänger und Sängerinnen mitten in der Adventszeit, die doch eine stille Zeit sein soll, tanzen. Ob er den Hunger der jungen Leute nach Leben, nach Unbeschwertheit und leichteren Takten ahnt?
Auch die beiden, Barbara und Wilhelm, tanzen immer wieder mal zusammen. »Selbst die Engel haben doch getanzt an Heiligabend!« Das hatte Wilhelm gleich mehr als einmal dem Chorleiter erwidert, wenn der mit verzogener Miene mahnte: »Nicht so laut.«
Aber Wilhelms Überzeugung blieb nun mal die: Wenn die Engel damals in stockdusterer Nacht über den Hirtenfeldern schon getanzt hatten, dann dürften die Chorsänger das doch wohl auch … Und eigentlich seien doch die Engel nur von den Hirten überrascht worden, weil die Himmelsboten zu nah über der Erde getanzt hätten. Wer weiß, wahrscheinlich hätten die Engel auch ein bisschen zu laut |59| gesungen. Wie anders bekommt man sonst schlafende Hirten mitten in der Nacht wach? Barbara hat schon damals kein Wort von dem, was Wilhelm sagte, geglaubt. Aber kam es darauf an?
Barbara und Wilhelm waren jedenfalls begeistert von diesen Tagen ohne die üblichen Verpflichtungen. Sie freuten sich auf das erste größere Weihnachtskonzert in dem ansonsten so still gewordenen und kriegszerstörten Nest, das mal ein ansehnliches Städtchen war. Sie verliebten sich und wussten nicht, wie alles weitergehen würde: Denn Wilhelms Familie beschloss, weiter in den Westen zu ziehen.
In dem versehrten Ort an der Peene gab es für so viele kein Bleiben. Wieder wurden Männer abgeholt und verschwanden
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