Und sie wunderten sich sehr
Freund aus Kindheitstagen Nikolas besuchen und sorgt sich: »Nikolas, niemand kann nur für Weihnachten leben!« Die mittlerweile erwachsen gewordene Waise fragt zurück: »Gibt es etwas anderes?«
Die Frage lässt im Film natürlich nur ein »nein« zu. Es ist eben eine filmische Weihnachtswundergeschichte von der Rettung eines Kindes, das schließlich halb Lappland etwas über das Schenken lehrt. In der Wirklichkeit jenseits des Films gibt es eben auch ein Ja. Na klar, es gibt noch etwas anderes als Weihnachten. Der wache Blick in so viele Teile dieser Welt – ganz ohne Weihnachtskultur – tut ein Übriges.
|45| Es bleibt die Frage, die nicht auf die Weihnachtstage begrenzt ist. Die Frage kann auch provozieren: Gibt es etwas anderes darüber hinaus, dass Gott »handelt«? Dieses Handeln ist nicht als ein übernatürliches Eingreifen hinzunehmen. Der Ausdruck der Gegenwart ist hier entscheidend: Nicht dass Gott mal irgendwann gehandelt hätte und sich die Welt nun immer mehr von diesem göttlichen Handlungsergebnis entfernen würde; aber auch nicht dass Gott nach Belieben, sichtbar und mirakulös, einfach reingreift, wo und wie es einer zutiefst zweifelhaften Willkür gefallen würde. Die Behutsamkeit Gottes verbietet all dies. Es ist die Behutsamkeit der Zeichensprache.
Zeichensprache ist demnach ein anderes Wort für Gottes Handeln. Die Zeichensprache seiner Liebesgeschichte mit dieser Welt. Es ist eine Liebesgeschichte, die in meine Lebensgeschichte hineinredet. Das ist zumindest die Voraussetzung, die ich teilen muss, damit es überhaupt zum Erkennen der Zeichen kommen kann. Es kommt darauf an, wie ich zuhöre, wie ich in meinem Leben lese, was schon vor Generationen und Generationen vor diesen Generationen ins Leben eines einzelnen Menschen hineingeschrieben wurde. Denn etwas verbindet mich mit diesen und allen noch älteren Generationen. Es ist die Weise, wie wir miteinander leben, wie wir unsere Beziehungen zueinander, zu uns selbst, zu Gott bedenken und beleben.
Die Geschichte von Gottes Selbst-Geschenk ist eine Geschichte der Liebe; Geschichten vom menschlichen Schenken sind Geschichten der Liebe.
Aber wo vom Gewinn der Liebe und ihrem Aufblühen gesprochen wird, kann ihr Wegbleiben oder Wegbrechen nicht verschwiegen werden. Die kommenden Erzählungen nehmen eben diese Gleichzeitigkeit von Aufblühen und Absterben der Liebe ernst. Das Sterben der Liebe oder eines geliebten Menschen wird nun am allerwenigsten mit Weihnachten in Verbindung gebracht. Das macht es ja so liebenswert, dieses Fest. Wie sehr in der modernen religiösen |46| Wahrnehmung die Krippe an die Stelle des Kreuzes getreten sei, wird immer wieder hervorgehoben. Gerade darum sei Weihnachten mit seinem Fest und der entsprechenden Fest-Ritualität ja während der vergangenen 200 Jahre ins Zentrum der Glaubenspraxis gewandert. So wird es nahezu durchgängig und sicherlich mit nachweisbarer Berechtigung behauptet. Wer will sich die Weihnachtsfreude schon verdunkeln lassen durch das Kreuz? Die folgenden Erzählungen zeigen, dass es nicht darum gehen kann, das Kreuz unserer Liebesgeschichten zu ignorieren; es stellt sich nun mal ein und hat ja auch seinen Platz in der Geburtshöhle. Krippe und Kreuz bestehen aus demselben Material. Wer an der Krippe steht, wird das Kreuz nicht übersehen.
Sich nicht davor zu fürchten, weder vor dem Kreuz noch vor der Krippe, dieser Grundton prägt die kommenden Seiten. Der Realist sieht in der Liebe nicht einfach ein Gegengift zur Furcht, aber er begreift sowohl am Weihnachtsabend als auch an Karfreitag: Gott kann und konnte nicht anders, als diese Welt zu lieben. In dieser Liebe wiederholt sich dieser Dreisatz:
»Fürchtet euch nicht« – das klingt den Hirten schon beim Aufbruch nach Bethlehem in den Ohren. »Fürchtet euch nicht« – das hören, die zum Ostermorgen am Grab Jesu ankommen; das hören hoffentlich klar und deutlich die Menschen in allen möglichen Fadenkreuzen des Lebens und an allen Gräbern dieser Erde.
|47| IV
Liebesgeschichten
Totgesagt wird sie immer wieder, die Liebe. Meist ist sie nur abwesend. Wohl ertrunken in Schein, Illusion, Irrtum und Lüge sei sie, das sagen ihr viele nach und wünschen dabei insgeheim, sie könnten sich vielleicht doch noch geirrt haben. Die Totgesagte scheint davon zu leben, dass sie hartnäckig für erledigt erklärt wird. Abhandlungen zur Liebe haben beste Chancen, Bestseller zu werden, wenn sie nur gut platziert sind. Da bleibt der besorgte
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