Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
Vom Netzwerk:
ist, auf dem Bahnsteig steht, da tauchen sie beide ab in eine andere Zeit. Eine »Festzeit« beginnt. Was ihnen an Lebenszeit abgelaufen ist, können sie mit einem Mal anhalten, anders takten. Sie gehen noch einmal durch jeden Moment von damals, die Fahrt, das Singen, Abende im erbärmlich sparsam beleuchteten Anklam. Darüber vergessen sie die Konzertkarten und werden es später nicht einen Moment bedauern.

    Für diesen Tag und für viele andere Tage, die nun noch kommen sollen, haben sie eine andere Gegenwart gefunden. Sie pendeln fortan zwischen diesen Zeiten sowie zwischen |62| Anklam und Berlin hin und her. Einen Winter, einen Frühling, einen Sommer, einen Herbst. Der Donnerstagabend ist immer reserviert fürs Tanzen in Berlin, weil ihnen das Singen in einer Seniorenkantorei nicht so recht einleuchten will.
    In den eisigen Tagen zwischen drittem und viertem Advent wollen sie eine kleine Erinnerungsreise dorthin starten, wo einmal das Ziel ihrer Chorfahrt lag: Heringsdorf. Es ist wirklich keine große Strecke, schon gar nicht mit dem Auto. Sie machen bestimmt einen etwas wunderlichen Eindruck, als sie aus dem Auto steigen, Hand in Hand jeden Türeingang, jedes Straßenschild und jede Eisblume kommentierend. Dieses alt gewordene Pärchen auf Liebespilgerschaft.
    Sie können ihr Glück darüber kaum fassen, was ihnen zusammen alles wieder einfällt, was sie an Bruchstücken der Vergangenheit zusammentragen können, weil sich eben zwei erinnern. Nichts Schlechtes können sie daran erkennen, noch nicht einmal an der Tatsache, dass damals über Nacht zerrissen war, was noch wunderbar hätte werden können: ein reales Leben zu zweit.

    Auf der Rückfahrt ist seine rechte Hand in Barbaras Hand und die linke am Lenkrad. Wahrscheinlich hätten auch zwei Hände am Lenkrad das Rutschen des Autos über die eisige Straße nicht verhindern können. Nachdem es sich einmal überschlagen hat, halten andere Autofahrer an. Die Quetschungen und die Kopfverletzung bei Wilhelm sind so stark, dass er in die Rostocker Klinik geflogen werden muss. Binnen Minuten ist der Hubschrauber da. Barbara darf nicht mitfliegen. Ihre Schnittverletzungen müssen erst einmal versorgt werden, gleich hier.
    »Ich komme nach …«, sagt sie zu Wilhelm und kann gar nicht anders als zu glauben, dass er, so bewusstlos wie er ist, irgendwie vernimmt, was sie verspricht.
    Ewigkeiten später kommt sie dann doch noch im Rostocker Krankenhaus an. Man gibt sich nicht viel Mühe damit, ihr mitzuteilen, dass Wilhelm mal wieder einen Schritt weiter gegangen ist. Wieder einmal vorausgegangen, ohne es |63| vorher sagen zu können. Auch dieses Mal hatte er keine Gelegenheit mehr gefunden. Dennoch darf sie ihn sehen und sich von ihm verabschieden. In einem stillen Raum liegt er bis unter das Kinn mit einem weißen Tuch zugedeckt. Die freundlichen Augen sind geschlossen, und sein Gesicht erzählt, dass er nun wirklich keine Schmerzen mehr hat.
    »Ich komme nach …«

    Während der Weihnachtstage blieb Barbara in den zwei Zimmern ihrer Berliner Wohnung allein. Ohne Licht, am liebsten im Dunkeln. So hat sie es später erzählt, wieder und wieder. Erst mithilfe der Dunkelheit hätte sie wie von allein rutschen können in diese andere Zeit, die sie mit ihm zu erkunden begonnen hatte. Bilder entstanden, die ihr beim Trauern halfen: Gemeinsam mit Wilhelm deckt sie den Tisch nur für sie beide; und zusammen freuen sie sich an dem, was sie in der Küche so fertiggebracht haben; gemeinsam bewundern sie die Zweige vor dem Fenster, die eingetroffene Weihnachtspost auf dem leicht verkramten Sekretär, die Stille auf der Straße. Ab und an wechseln sie ein paar Worte in platt.
    Er erzählt noch einmal die Geschichte von den Engeln, die eigentlich von den Hirten nur überrascht worden waren, als sie zu nah über der Erde getanzt hatten. Barbara freut sich wie beim ersten Hören über die Tatsache, dass die zu laut gesungen und getanzt und die Hirten damit nur zufällig wachgemacht hatten. Genau so hätte es ja gewesen sein können. Genau so!

    Zwei Wochen später ist das Weihnachtsfest Schnee von gestern. Die Stadt bekommt wieder ihr altes Tempo. Die Weihnachtsdekoration auch im Tanzsaal über den Dächern der Stadt ist schon wieder in Kisten verpackt. Die Weihnachtspause restlos vorbei, und die meisten scheinen froh, wieder im alltäglichen Rhythmus angekommen zu sein. Die Tanzlehrerin bemüht sich um eine gelöste Stimmung und dreht den Cha-cha-cha so richtig auf, als Bärbel die

Weitere Kostenlose Bücher