Und sie wunderten sich sehr
nicht mal von fern kennen gelernt habe. Was das heißt, erfahre ich – und zwar ungefähr 20 Stunden nach meiner Ankunft auf dem Boden Nordamerikas. »Wenn Sie angegriffen |67| werden, geben Sie besser Ihre Geldtasche heraus. Sie können nicht wissen, ob der Räuber Schusswaffen gebraucht. Tragen Sie nie Geld in der Handtasche, es sei denn, Sie brauchen es wirklich. Lassen Sie sich nicht ansprechen in Regionen der Stadt, die Ihnen nicht bekannt sind.« Was sicher machen soll, produziert Angst.
Aber von all dem weiß ich noch nichts, als ich ins Flugzeug zunächst Richtung Frankfurt steige.
Erst hier darf ich Jakobs Brief öffnen: »… im International Student Office wartet ein Päckchen auf dich.«
Päckchen? Es entpuppt sich als ein ganzes Paket: Sorgfältig verpackt sind darin gleich vier Adventskalender: Einer von denen, die man für vier oder fünf D-Mark schon gefüllt kaufen konnte, einer besteht aus lauter Minisocken und zwei stecken in kitschig-gold lackierten Kästchen. Sie sind aller vorweihnachtlichen Symbole, die man auf Adventskalendern erwartet, entkleidet. Engelchen und Weihnachtsmänner sind überklebt, stattdessen finden sich diese typischen Jakob-Skizzen, Männchen, die auf einer riesigen Freiheitsglocke herumturnen, Sprüche im Logo eines berühmten Frischkäseherstellers geschrieben. »Jeden Tag ein Türchen, bis wir uns wiedersehen. Sie reichen genau, ich habe es durchgezählt. Und freu dich nicht zu früh: Hinter keiner Tür und in keinem Söckchen gibt es Schokolade. Ich will dich ja im Dezember noch wiedererkennen …« Was für eine charmante Gebrauchsanweisung für diese Kalenderinstallation des Kunststudenten Jakob M. im fünften Semester.
Also öffne ich gleich am ersten Tag mein Türchen und habe wieder dieses magische Gefühl aus Kindertagen: Wer weiß? Wenn ich alle Türchen sofort aufmache, verfliegt die Zeit vielleicht doch schneller … Die Enttäuschung der Fünfjährigen war natürlich groß. Und die Tage des Wartens hatten – nach dem Generalüberfall auf den gesamten Adventskalender – angesichts der Türchen, hinter denen nur Leere wartete, etwas Zähes, ja Schleppendes. An das |68| leere Gefühl nach der Fülle im Bauch erinnere ich mich noch gut – und lass es bleiben mit dem Generalüberfall. In Ordnung, Jakob, jeden Tag ein Türchen. Irgendwann Mitte Oktober kommen die Söckchen ran. Und Anfang Dezember, wenn die Tage so kurz sind, dass man gar nicht mehr weiß, wie sich Sonnenlicht auf amerikanischen Hausdächern machen könnte, bin ich bei den goldglänzenden Kästchen angekommen.
Und wirklich, es gibt nie Schokolade – immer etwas für das Herz oder den Kopf. Etwas, was mich lächeln lässt oder die Verzagte vor die Tür schubst. Deine Stadterkundungs-Aufträge etwa trösten mich über die Tatsache hinweg, Philadelphia zunächst allein entdecken zu müssen. »Such doch mal das Geburtshaus von Grace Kelly. Gibt’s das überhaupt noch?«; oder: »Lässt es sich gut einkaufen in Germantown? – Probier es mal aus.«
Meine Berichterstattung über Post und Telefon ist kostspielig. Kein Stipendium der Welt sieht Telefonrechnungen in dreistelliger Höhe vor. »Heute schon Schüsse gehört in in North-Philly?«, war meist die Begrüßung am Telefon.
Hin und wieder überlebt es sich nämlich nicht gut in diesem Teil der Stadt. Ich bin eindeutig weiße Minderheit, lebe mit sechs anderen Studentinnen in einem Haus, das vor vielleicht 50 Jahren mal besser in Form war. Die zugigen Fenster mit Plastikfolie verklebt, die Heizung nur dann brauchbar, wenn es keinen Ostwind gibt. Ich habe mich daran gewöhnt, dir meine Briefe im wärmenden Schlafsack sitzend oder aus der Bibliothek zu schreiben, Jakob. Der Vorgarten bietet immer wieder Männern Schutz, denen es an besseren Unterkünften mangelt. Sie sitzen dann zwischen Gehweg und Verandatür und jagen mir in der Dunkelheit einen Riesenschrecken ein.
Meine Philadelphia-Sympathie wird zum Philadelphia-Blues: ein Sicherheitstraining nach dem anderen für die Auslandsstudenten, und die Polizei, die auf Wunsch jeden Studenten abends freundlich vom Campus an die U-Bahn -Station |69| begleitet. Das lässt mich ernsthaft an der Freiheit zweifeln.
»Du übertreibst! Geh doch in bessere Gegenden und jammer mal nicht so viel …« Soweit also dein Kommentar aus Übersee. Nicht jeden Kilometer unserer Distanz können wir überbrücken. Unausgesprochenes, Ungeteiltes bleibt in den teuren Telefonleitungen hängen.
Anfang September
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