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Und sie wunderten sich sehr

Und sie wunderten sich sehr

Titel: Und sie wunderten sich sehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina-Maria Bammel
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|64| Glastür zum Saal öffnet – allein. Niemand im Saal scheint zu begreifen, wovon Barbara spricht, als sie vom Unfall erzählt. Wer will nun noch einen Cha-cha-cha? Die Worte fehlen. Wer will Barbara etwas sagen, das nicht in Peinlichkeit abrutscht? Warum ist sie überhaupt noch einmal gekommen? Sie scheint es selbst nicht so richtig zu wissen.
    Soll man also auf die Tanzeinheit verzichten, für heute Abend alles beenden? Die Tanzlehrerin kommt nicht umhin, das zumindest anzubieten. In diesem Moment weiß Barbara plötzlich genau, was sie will: »Wilhelm hätte gern heute mitgetanzt. Also tanzt. Mir zuliebe.« Fast dreht sie sich um, als wolle sie gehen … Die Tanzlehrerin, insgeheim erleichtert über das Ende dieses unkalkulierbaren Moments, dreht die Musik wieder hoch. Was sie dann entscheidet, ist die Sache einer Sekunde: Sie fordert Barbara zum Tanz – einen letzten, für Wilhelm. Barbara hätte ablehnen können, eine kleine Geste hätte genügt. Aber sie lässt sich an die Hand nehmen, noch einmal – und stellt fest: Tanzen tröstet.
    |65| Warten in Philadelphia
    Der Engel kam zu ihr hinein und sprach:
    Sei gegrüßet, du Begnadete!
    Der Herr sei mit dir!
    Sie aber erschrak über die Rede und dachte:
    Welch ein Gruß ist das?
    Lukas 1,28.29

    Wenn die Sehnsucht wieder mal herankriecht, fahre ich an einen Flughafen, irgendeinen, und warte ein bisschen. Vielleicht kommt er ja plötzlich durch diese lautlos wie von Geisterhand bewegten Türen – mit einem Spruch auf den Lippen: »Tut mir Leid, es hat etwas gedauert. Du kannst dir ja nicht vorstellen, was da oben los ist. Luft-Stau.« Und dann küsst er mich, und wir machen uns ein bisschen lustig über die gehetzten Mitreisenden, die sich so viel Mühe geben, auch nach einem Interkontinentalflug noch makellos auszusehen. Wir ziehen schließlich los, irgendwohin, wo es auf Zeit nicht mehr ankommt.
    Der letzte Kuss war ein Flughafenkuss. Da steh ich mit einem Stipendium, einem Flugticket, Übergepäck in Form von Büchern, einem Wintermantel mitten im August und warte auf den Abflug Richtung Amerika. Philadelphia. Ein Jahr, vielleicht auch mehr.
    Für das Kind war Philadelphia ein Sehnsuchtswort. Sommer für Sommer im selben Brandenburger Dorf in den Ferien, war es täglich am Dorfschild mit dem Aufdruck »Philadelphia« vorbeigeradelt – weit vor den Toren der ziemlich trostlosen Hauptstadt der DDR. Das Nest »Philadelphia« hatte rund 250 Einwohner, einen gesperrten See, in dem kein Fisch überleben wollte, und jede Menge Felder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. In unmittelbarer Nachbarschaft befand sich Boston. Mindestens ebenso exotisch wie Philadelphia, was den Namen betrifft. Beide Dörfer, oder besser: märkische Hausansammlungen, hatten mit Amerika so viel zu tun, wie die Hallorenkugel mit einer |66| Kokosnuss. Die Hallorenkugel, hergestellt in volkseigenen Süßwarenfabriken, schmeckte ungefähr so verheißungsvoll wie sie hieß. Für die Kokosnuss brauchte es Fantasie.
    Einmal die richtige Kokosnuss schmecken, einmal das richtige Philadelphia sehen; ganz zu schweigen von dem Traum, tatsächlich dort einmal leben zu können. Einmal diese Häuser sehen, die tatsächlich an den Wolken kratzen und nicht am märkischen Sand …
    Drei Jahre nach dem Einzug der Freiheit ins Brandenburgische halte ich meine Zusage aus Philadelphia in der Hand. »Philly«, die Stadt, die dich angeblich zurückliebt, ich komme! Jetzt werde ich sehen, ob das stimmt.

    Die vergangenen zwölf Monate hatte ich Bewerbungen und Briefe geschrieben, Tests absolviert, einen irgendwie guten Eindruck bei den Auswahlgesprächen abgegeben, Englisch gelernt. Und jetzt ist es amtlich. Ich kann nicht mehr zurück. Aber genau das würde ich gern. Der Grund dafür steht neben mir am Gate: Jakob. Er bleibt auf dem Boden, während ich mich gleich Richtung amerikanische Ostküste fliegen lasse.
    Dabei hatten wir es gemeinsam geplant: Freiheit dort erleben, wo sie angeblich ihre Wiege hat, studieren, und zwar eine Stadt, ein ganzes Land, einen Kontinent. Das war unser gemeinsamer Traum, aber nur ich hatte es geschafft.
    »Und du bist nicht beleidigt?«, frage ich kleinlaut.
    »Sag mal, spinnst du? Du hast das Stipendium bekommen; du hast dich doch angestrengt. Und jetzt mach was draus, du Angsthase!«

    Für viele Monate allein in der Stadt der Geschwisterliebe: Philadelphia. Von wegen Geschwisterliebe. Mit einer Kriminalität hat die Stadt zu kämpfen, die ich bis dahin noch

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