Und sie wunderten sich sehr
vergesse ich einmal ein Türchen zu öffnen. Gründe gibt es dafür viele, eine plausible Erklärung eigentlich nicht. Ablenkungen, Universitätsalltag, die eine oder andere viel zu interessante Einladung ins Philadelphia Orchestra mit Wolfgang Sawallisch am Pult – oder ins Kino.
Nach Thanksgiving weiß ich ganz genau: Wenn wir uns erst wiedersehen, wirst du begeistert sein, von der Stadt, dem Haus, der Universität, von mir sowieso. Und dann wird’s Weihnachten – in Amerika früher als in Deutschland. Während zu Hause noch die Gräber abgedeckt werden am Ewigkeitssonntag, gibt es hier schon längst einen Christmas Market neben dem nächsten.
Es werden immer weniger Türchen. Dein Besuch ist fast zum Greifen nah. Ich freue mich. All deine Notizen, Forschungsaufträge, Bildchen und Zeichnungen zieren die blauen Wände meines Zimmers.
Diese Zeichnungen habe ich auch vor Augen, als die Frau am Telefon sagt, dass du nicht nach Philadelphia kommen wirst. Deine Mutter. Sie weint. Ein Aufprall zweier Autos in einer der Brandenburger Alleen. Kein Mensch hätte das auch nur annähernd heil überstanden. Du warst sofort tot.
»Ain’t no angel gonna greet me – kein Engel grüßt mich«, singt Bruce Springsteen zu den Filmszenen von »Philadelphia« – und erhält dafür 1994 einen Oscar. In diesem Spielfilm über den Kampf eines aidskranken Mannes gegen seine Ausgrenzung hat das Sterben länger gedauert.
Hätten wir das gedacht, Jakob? Als wir im Sommer 1988 |70| in Staub und Julisonne vor einer Ostberliner Riesenbühne Stunden auf diesen Springsteen gewartet hatten, um dann das Größte zu erleben, was du dir je vorstellen konntest: ein Konzert mit ihm, deinem Idol, festgenagelt in zig Fotovarianten an den Wänden deines Zimmers.
Wir hatten keinen Platz in der Menge und erst recht keine Luft. Aber wir tanzten mit völlig verdreckten Staubfüßen. »Glory days« hat er dazu gesungen – dass sie es tatsächlich waren, haben wir im Sommer 1988 nicht gewusst, noch nicht. Vielleicht wurden sie auch nur noch ein bisschen glänzender im Rückblick.
»Kein Engel grüßt mich« – Springsteens Stimme dann 1993, nur wenige Jahre später in dem Film zur Stadt der »brotherly love«. Im Jahr deines Todes. Springsteen und dieses Lied sind für mich eins. Nie wird es jemand besser, unerlöster, trauriger und sehnsuchtsvoller singen als dein Idol, Jakob. Da bin ich sicher.
Ich habe nach dem Anruf deiner Mutter Blei in den Füßen. Da bleibt es lange und wandert schließlich ins Herz und in den Kopf. Alles bleiern. Zu müde bin ich, um weiter zu studieren, zu träge, zu apathisch, um etwas zu beginnen. Und dann kommt Weihnachten.
Maria, die schwangere Frau, hat abgesehen von dem poetischen Loblied, das ihr in den Mund gelegt worden ist, nicht viel Text in der Geburtsgeschichte ihres Sohnes. Aber für den Engel hat sie doch tatsächlich eine Antwort. Sie ist nicht sprachlos vor Überwältigung, als er sich ihr nähert:
Sie
wird gegrüßt, von einem Engel! »Welch ein Gruß ist das?«, fragt Maria. Mich grüßte kein Engel. Dabei hätte ich ein Signal des Lebens so dringend gebraucht.
Aber grüßen Engel überhaupt, wenn sie in der Wirklichkeit, auf die wir festgenagelt sind, doch nichts ändern können? Wahrscheinlich wagen sie es einfach nicht, sich einzumischen, tun so, als seien sie nicht da. Vermissen kann man sie ja trotzdem, wenn sie sich so im Hintergrund halten, dass man nicht mal ihre Grüße hört.
|71| Die letzte deiner kleinen Schachteln habe ich nicht mehr aufgemacht. Sie bleibt verschlossen. Ich habe sie in einer der Kisten vergraben, die nun schon seit fast 20 Jahren mit mir umziehen. Aber wer weiß? Vielleicht wird diese Schachtel doch noch einmal zur Tür, hinter der noch alles möglich werden kann. Vielleicht geschieht ein Wunder – nach meinen Vorstellungen? Du hättest etwas dagegen, glaube ich. Ausgerechnet du hast mir mit der Überzeugtheit eines angehenden Künstlers gesagt: »Rechne statt mit Gott doch mal lieber mit den schönen Dingen des Lebens …« – und dann stirbst du einfach im Advent?
Sich trösten lassen heißt, die Welt auch wieder mit anderen Augen sehen lernen. Was ich mit anderen Augen sehen lerne, jeden Tag, das lässt auch mich zu einer anderen werden. Die Jahre, die in mich hineingelangen, aufs Gesicht, auf Hände, Haare, Herz. Du kennst diese Jahre nicht. Du kennst nicht das Gefühl, mit Ende 30 einzusehen: Es stimmt nicht, dass man keinen Fehler ein zweites Mal machen
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