Und sie wunderten sich sehr
Säuglinge nicht auf der Station. Diese Art der Schönfärberei ist lächerlich.
Da ist das Gebet auch schon vorbei und Benjamin ist noch stiller als vorher. Nina ist jetzt warm und kalt zugleich. Im Kirchraum hinter ihnen beginnt ein zaghaftes, aber betont geschäftiges Geklapper. Das müssen die letzten Vorbereitungen für den Gottesdienst sein. Nebeneinanderher gehen sie langsam den schmalen Kirchgang raus in den Abend.
Worüber könnte man jetzt möglichst locker reden?
»Jemand hat mal gemeint, Beten sei die Sammlung in den Augenblick«, setzt Benjamin etwas hölzern die Worte in die Abendsstimmung. Nina hat keine Vorstellung davon, was da gesammelt werden könnte.
»Wir haben auch einen Andachtsraum in der Klinik«, erwidert sie. Als Benjamin begreift, in welchem Klinikbereich sie arbeitet, fragt er genauer nach. Nina erzählt von den Herztönen und den Wärmebetten, von Hierarchien im Kreißsaal und überzogenen Erwartungen der Mütter bei dem, was die Laienwelt Kaiserschnitt nennt. Sie erzählt, dass sie sich sicher fühlt, wenn es um Untersuchungen in den so genannten »kleinen« Wochen geht, also den frühen Wochen der Schwangerschaft. Das kann sie nun mal. Heikler seien da schon die »großen« Wochen, also die Zeit, in der die Kinder eigentlich lebensfähig sind und bald geboren werden. Da könne noch so viel »passieren«, sagt sie und lässt es einfach in der Luft zwischen ihnen beiden hängen. |114| Nina erzählt noch weiter von lustigen Kindsbewegungen, sichtbar auf dem Ultraschall – und Benjamin unterbricht sie nicht. Nur am Ende fragt er, schon in Sichtweite des Hotels: »Warum wollt ihr schon vor der Geburt so viel messen, analysieren, bestimmen, Kopfumfang, Gewicht und Nackenfalte in eine Statistik einarbeiten?« Nina hält die Frage zwar nicht für lächerlich, wie die meisten ihrer Kollegen es tun würden, aber naiv ist es schon. Nina kennt die ungefähre Ziffer der Abbrüche in Folge der Pränataldiagnostik, der vorgeburtlichen Untersuchung, allein in ihrem Krankenhaus. Sie kennt die Ärzte, die Tag für Tag diese Diagnosen stellen und lapidar sagen: »Ich sehe jeden Tag mindestens eine Fehlbildung.« Leben, das meist nicht geboren wird. Von den Abbrüchen vor der zwölften Woche »spricht ja gar keiner«; das sagen die Kollegen dann. Aber die Abbrüche nach der zwölften Woche – auch für Nina sind sie das Schwerste.
Ihrem Begleiter Benjamin erzählt sie von den Frauen, die doch wissen sollten, ob ihr Kind einen schweren Herzfehler oder eine Krankheit hat, die nach der Geburt sofort, nach ein paar Stunden oder ein paar Tagen die Lebensfähigkeit beendet. »Und müsst ihr dann auch vor der Geburt die Herztöne beenden, damit das schwer geschädigte Kind gar nicht erst auf die Welt kommt?«
»Als ob das so einfach wäre!«, reagiert Nina fast reflexartig! Sie merkt, sie fällt in die Tonlage der Ärztin. Als ob sie kein Gefühl dafür hätte, welche Verantwortung eine Ärztin sowohl in den »kleinen« als auch in den »großen Wochen« hat, selbst wenn sie nur die Narkose bei der noch Schwangeren für den tödlichen Eingriff setzt. Sie denkt an die letzten Besprechungen vor der OP, sie denkt daran, dass das Wort Hirnschaden immer irgendwie nach Totalschaden klingt, und empfindet sich dabei selbst als grausig. Sie kennt den genetisch bedingten Tod der Föten im Mutterleib und die Ausschabung danach. Sie weiß, wie Lebensprognosen schwer kranker Embryos beschrieben werden, ohne dass wirklich etwas bei den Müttern, die sie ja werden |115| wollten, ankommt. Sie sieht die Frauen im Warteraum sitzen mit der Bescheinigung in der Hand, leergeweinten Augen und voller Angst. Sie denkt an ihre Kollegin, die diese Tonlage zwischen professionell und empathisch so haargenau zu treffen vermag, wenn sie zu den schwangeren Frauen sagt: »Ich an Ihrer Stelle würde …«
Ja, es ist wahr: Auch in den großen Wochen werden bei schweren Schädigungen Kinder gegebenenfalls nicht geboren. »Du meinst: vor ihrer Geburt getötet?«, fragt Benjamin zurück.
Nina hat sich seit einem halben Jahr nicht mehr solchen Fragen stellen müssen. Für diese Art von Eingriffen war sie schon eine ganze Weile nicht mehr eingesetzt. Das kann sich im Besetzungsplan der Klinik jederzeit ändern; sie weiß das.
An das letzte verstorbene Frühchen während ihrer Schicht muss sie allerdings ausgerechnet jetzt denken. Die Eltern haben ihr totes Kind dreimal hintereinander gebadet, immer wieder eingewickelt und ausgewickelt und
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