Und so verlierst du sie
ersten beiden Lebensjahren plagte Mami eine krankhafte Angst (haben mir meine tías erzählt), jemand könnte ihn entführen. Bedenkt man dann noch, dass er von Anfang an ein bildhübscher Junge war – und völlig consentido –, ahnt man langsam, was sie für diesen Irren empfand. Mütter sagen ständig, sie würden für ihre Kinder sterben, aber solchen Mist gab Mami nie von sich. Musste sie gar nicht. Wenn es um meinen Bruder ging, stand ihr das in 112 Punkt großem Tupac Gothic ins Gesicht geschrieben.
Tja, und deshalb dachte ich, sie würde nach ein paar Tagen einknicken, und dann gäbe es Küsschen und Umarmungen (bei Pura vielleicht einen Tritt gegen den Kopf), und alle hätten sich wieder lieb. Aber meine Mutter spielte nicht mit, und das sagte sie Rafa auch, als er das nächste Mal vor der Tür stand.
Ich will dich hier nicht haben. Mami schüttelte entschlossen den Kopf. Los, geh zu deiner
Frau
.
Ihr glaubt, mich hätte das überrascht? Dann hättet ihr mal meinen Bruder sehen sollen. Er kippte fast aus den Latschen. Dann leck mich doch, sagte er zu Mami, und als ich ihm sagte, er solle nicht so mit meiner Mutter reden, meinte er nur, Und du leck mich auch.
Rafa, lass den Scheiß, sagte ich, als ich ihm auf die Straße nachlief. Das kann doch nicht dein Ernst sein. Du kennst die Tussi doch gar nicht.
Er hörte nicht zu. Als ich näher kam, versetzte er mir einen Boxschlag gegen die Brust.
Hoffentlich riechst du gerne Hindus, rief ich ihm nach. Und Kinderkacke.
Ma, sagte ich. Was hast du dir dabei gedacht?
Frag ihn mal, was
er
sich gedacht hat.
Zwei Tage später, als Mami arbeiten war und ich in Old Bridge bei Laura abhing – was darauf hinauslief, mir anzuhören, wie sehr sie ihre Stiefmutter hasste –, ging Rafa ins Haus und holte seine restlichen Sachen. Dabei nahm er gleich noch sein Bett, den Fernseher und Mamis Bett mit. Die Nachbarn, die ihn gesehen hatten, erzählten, ein Inder habe ihm geholfen. Ich war so wütend, dass ich die Bullen rufen wollte, aber meine Mutter verbot es mir. Wenn er so leben will, werde ich ihn nicht davon abhalten.
Klingt ja toll, Ma, aber wie zum Teufel soll ich jetzt fernsehen?
Sie warf mir einen finsteren Blick zu. Wir haben noch einen Fernseher.
Hatten wir. Einen schwarzweißen mit fünfundzwanzig Zentimetern Diagonale und einem Lautstärkeregler, der auf zwei festhing.
Mami schickte mich nach oben zu Doña Rosie, um eine Gästematratze zu holen. Das ist ja schrecklich, was da gerade passiert, sagte Doña Rosie. Halb so wild, meinte Mami. Du hättest mal sehen sollen, worauf wir geschlafen haben, als ich klein war.
Als ich meinen Bruder das nächste Mal auf der Straße sah, waren Pura und das Kind bei ihm, er sah furchtbar aus, und seine Klamotten passten ihm nicht mehr. Ich brüllte, Du Arschloch, deinetwegen muss Mami auf dem Scheißboden schlafen!
Sprich mich nicht an, Yunior, warnte er mich. Sonst schneide ich dir die beschissene Kehle durch.
Jederzeit, Bruder, sagte ich. Jederzeit. Nachdem er nur noch fünfzig Kilo wog und ich mich mit Gewichtheben auf einundachtzig gebracht hatte, konnte ich den aguajero spielen, aber er fuhr sich nur mit einem Finger über die Kehle.
Lass ihn in Ruhe, flehte Pura und versuchte, ihn zurückzuhalten, damit er sich nicht auf mich stürzte. Lasst uns alle in Ruhe.
Oh, hallo, Pura. Haben sie dich noch nicht ausgewiesen?
Jetzt stürmte mein Bruder auf mich zu, und fünfzig Kilo hin oder her, ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Ich verzog mich.
Hätte ich nie gedacht, aber Mami blieb standhaft. Ging zur Arbeit. Machte bei ihrem Gebetskreis mit und blieb ansonsten in ihrem Zimmer. Er hat sich entschieden. Trotzdem betete sie noch für ihn. Ich hörte, wie sie bei einem Treffen Gott darum bat, ihn zu beschützen, ihn zu heilen und ihm zur Einsicht zu verhelfen. Manchmal schickte sie mich rüber, angeblich, um ihm Medikamente zu bringen, aber eigentlich, damit ich nach ihm sah. Ich hatte Angst und dachte, er würde mich gleich an der Haustür umbringen, aber meine Mutter bestand darauf. Du überlebst das schon, meinte sie.
Erst musste mich der Gujarati in die Wohnung lassen, und dann musste ich anklopfen, bevor ich in ihr Zimmer durfte. Pura hielt sogar richtig Ordnung, brezelte sich für diese Besuche auf, steckte ihren Sohn in seine besten Immigrantenklamotten. Sie warf sich wirklich mächtig ins Zeug. Umarmte mich fest. Wie geht es dir, hermanito? Rafa kümmerte es dagegen einen Scheiß. Er lag in
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