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Und so verlierst du sie

Und so verlierst du sie

Titel: Und so verlierst du sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Junot Díaz
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drehte Rafa nur den Kopf weg. Als hättest du keine Antwort verdient. Als hätte niemand eine verdient.

3
    Du warst in dem Alter, in dem du dich wegen eines Blicks, einer Geste in ein Mädchen verlieben konntest. So war es auch bei deiner Freundin Paloma gelaufen – sie hatte sich gebückt, um ihre Handtasche aufzuheben, und schon hattest du dein Herz verloren.
    So war es bei Miss Lora.
    Es war 1985 . Du warst sechzehn und völlig durch den Wind und tierisch einsam. Und du warst überzeugt – richtig felsenfest überzeugt –, dass sich die Welt in die Luft jagen würde. Fast jede Nacht hattest du Albträume, neben denen sich die Träume des Präsidenten in
Dreamscape
wie Muschikraulen ausnahmen. In deinen Träumen explodierte die Bombe immer wieder, sie pulverisierte dich, während du die Straße entlanggingst, einen Hähnchenflügel aßt, mit dem Bus zur Schule fuhrst, Paloma vögeltest. Beim Aufwachen hast du oft gemerkt, wie du dir vor Panik in die Zunge gebissen hast, über dein Kinn sickerte Blut.
    Irgendwer hätte dir was verschreiben sollen.
    Paloma fand dich albern. Sie wollte nichts hören über das Gleichgewicht des Schreckens,
The Late Great Planet Earth
, Reagans Witz, man werde in fünf Minuten die ersten Bomben abwerfen, SALT II ,
The Day After
,
Threads
,
Die rote Flut
,
WarGames
, Gamma Worlds, über gar nichts. Nannte dich einen alten Depri. Und noch mehr Deprimierendes konnte sie in ihrem Leben nicht gebrauchen. Sie wohnte in einer Einzimmerwohnung mit vier kleineren Geschwistern und einer behinderten Mutter und kümmerte sich um alle. Und dazu war sie auch noch eine der besten Schülerinnen. Sie hatte für
nichts
Zeit, und du vermutetest schon, dass sie nur mit dir zusammenblieb, weil ihr das mit deinem Bruder leidtat. Ihr habt euch sowieso nicht oft gesehen oder miteinander geschlafen oder so. Die einzige Puerto-Ricanerin, die sich mit absolut nichts rumkriegen ließ. Ich kann nicht, sagte sie. Ich darf keinen Fehler machen. Warum wäre Sex mit mir ein Fehler?, hast du gefragt, aber sie schüttelte nur den Kopf und zog deine Hand aus ihrer Hose. Paloma war überzeugt, wenn sie in den nächsten zwei Jahren einen Fehler machen würde,
irgendeinen Fehler
, würde sie für immer bei ihrer Familie festsitzen. Das war
ihr
Albtraum. Stell dir mal vor, ich werde nirgendwo angenommen, sagte sie. Dann hast du immer noch mich, wolltest du sie trösten, aber Paloma sah dich an, als wäre ihr die Apokalypse doch lieber.
    Also sprachst du mit jedem über den bevorstehenden Weltuntergang, der dir zuhörte – mit deinem Geschichtslehrer, der behauptete, er würde für den Ernstfall in den Pocono Mountains eine Schutzhütte bauen, mit deinem Freund, der in Panama stationiert war (damals schriebst du noch Briefe), mit deiner Nachbarin Miss Lora, die um die Ecke wohnte. Darauf gründete eure Beziehung. Sie hörte zu. Und nicht nur das, sie hatte auch
Alas, Babylon
gelesen und einen Teil von
The Day After
gesehen, und beides hatte ihr eine Scheißangst eingejagt.
    The Day After
macht einem doch keine Angst, beschwertest du dich. Der war Mist. Man kann keine Atombombenexplosion überleben, indem man sich hinter das Armaturenbrett duckt.
    Vielleicht war es ein Wunder, sagte sie scherzhaft.
    Ein Wunder? Das war einfach blöd. Sie müssen unbedingt mal
Threads
sehen. Der haut richtig rein.
    Ich glaube, das könnte ich nicht ertragen, sagte sie. Und dann legte sie dir eine Hand auf die Schulter.
    Die Leute berührten dich ständig. Du warst das gewohnt. In deiner Freizeit hast du Gewichte gestemmt, auch das eine Methode, um dich von dem Mist in deinem Leben abzulenken. Irgendwo in deiner DNA musste sich ein Mutantengen versteckt haben, das ganze Gewichtheben hatte dich nämlich in einen verdammten Zirkusfreak verwandelt. Normalerweise störte es dich nicht, wie dich die Mädchen und manchmal auch Typen anfassten. Aber bei Miss Lora hast du gemerkt, dass es irgendwie anders war.
    Als Miss Lora dich berührte, hast du aufgeblickt und plötzlich bemerkt, wie groß ihre Augen in dem schmalen Gesicht waren, wie lang ihre Wimpern, dass eine Iris mehr Bronze aufwies als die andere.

4
    Natürlich kanntest du sie; sie war deine Nachbarin und unterrichtete drüben an der Sayreville Highschool. Aber erst seit ein paar Monaten hattest du sie wirklich auf dem Schirm. In deinem Viertel wohnten viele solcher Singles in mittleren Jahren, die von allen möglichen Katastrophen gebeutelt waren, aber sie gehörte zu den wenigen, die

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