Und trotzdem ist es Liebe
ich richtig vermutet habe: Er war joggen. Ich kenne dich immer noch , flüstere ich, und dann winke ich für den Fall, dass er mich nicht sieht. Es ist kein eifriges Winken, nur eine lässig grüßend erhobene Hand. Ich warte darauf, dass er zurückwinkt, aber das tut er nicht, er rückt bloß seine Mütze zurecht und biegt mit der einen Hand den Schirm rund. Ich wische mir mit der Serviette den Mund ab und stehe auf; ich nehme an, dass er mich jeden Augenblick sehen wird.
Aber stattdessen wendet er sich in die andere Richtung, einem Mädchen zu, das auf ihn zugejoggt kommt. Meine Gedanken setzen kurz aus und rasten dann mit einem Klick ein. Ben läuft mit einem Mädchen. Er hat ein Date. Ein sommerliches Nachmittagsdate. Ein Zusammen-durch-den-Park-laufen-Date .
Ich denke daran, wie wir zum ersten Mal zusammen gelaufen sind. Das war, nachdem wir zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Ungefähr eine Woche danach. Höchstens zwei. Das weiß ich genau. Ich habe ein erstklassiges Gedächtnis, vor allem für Daten. Und für Ben.
Ich mustere diese Frau, mit der er da zusammen ist. Dieses Mädchen. Sie hat langes, dichtes, weißblondes Haar, und sie hat es zu einem perfekten, seidigen Pferdeschwanz zusammengebunden, der genau richtig hin und her schwingt. Genau solche Haare habe ich mir gewünscht, als ich sehr viel jünger war, und ich habe geglaubt, ich könnte meine irgendwie dazu bringen, genau so auszusehen.
Das Mädchen macht noch einen, zwei, drei Schritte und ist dann bei ihm. Ben sagt etwas zu ihr und beugt sich dann vor und stemmt die Hände ans Hinterteil seiner Shorts, als müsse er zu Atem kommen. Ich kann sein Profil sehen. Er richtet sich auf, und seine Brust hebt und senkt sich im Keuchen nach einem harten Finish. Sein Hemd ist feucht auf der Brust. Das Mädchen dehnt die linke Ferse. Sie hat lange, kräftige Beine wie eine Beachvolleyball-Spielerin, nur nicht so braun. Ihre Haut ist so hell wie ihr Haar, ihr Gesicht lang und kantig. Hübsch würde ich sie nicht nennen, aber sie ist attraktiv und – zu meinem Pech – sehr einprägsam. Ich könnte nicht sagen, wie alt sie ist, aber Haltung und Gesichtsausdruck lassen mich vermuten, dass sie noch keine dreißig ist.
Alle diese Beobachtungen dauern nur ein paar Sekunden, aber die Zeit genügt, um ein Rinnsal von schmelzendem Softeis an der Waffel hinunter auf meine Hand und meinen Unterarm tröpfeln zu lassen. Außerdem genügt die Zeit, um die Ampel auf Grün springen zu lassen, und Ben und sein Date kommen auf mich zugelaufen. Und vor allem genügt die Zeit, um mich begreifen zu lassen, dass ich rettungslos in der Falle sitze. Wenn ich meinen Hausschlüssel noch hätte, würde ich mich jetzt hineindrücken und mich bei den Briefkästen hinter der Treppe verstecken. Darauf hoffen, dass Ben seine Post schon herausgenommen hat. Mich abwenden und in die andere Richtung weggehen kann ich nicht, denn Ben kennt mich von hinten genauso gut wie von vorn. Und die dritte Möglichkeit – ihnen aggressiv entgegenzugehen – bringe ich einfach nicht über mich. Also bleibe ich einfach wie angewurzelt stehen. Hektisch versuche ich mich sauber zu machen; inzwischen läuft ein halbes Dutzend Eistropfen an meiner Waffel hinunter, und ein paar bunte Streusel schwimmen mit. Ich sehe aus wie ein Schwein.
Du dumme Kuh , denke ich – wieso musstest du überhaupt herkommen, und wieso kaufst du dir an so einem heißen Tag ein Softeis? Noch dazu eins mit bunten Streuseln? Wie alt bist du? Zwölf? Das ist mein letzter Gedanke, bevor Ben mich sieht. Zuerst ist er verwirrt, als sei es völlig absurd, dass ich vor dem Haus stehe, in dem ich jahrelang gewohnt habe. Dann lächelt er gepresst; die Notwendigkeit, uns einander vorzustellen, macht ihn offensichtlich nervös. Sein Blick geht aufgeregt zwischen mir und dem Mädel hin und her. Sie ahnt noch nichts; sie scheint mich gar nicht zu bemerken, sondern schaut durch mich hindurch, wie man es täglich bei vielen Leuten tut. Besonders in einer Großstadt. Sie ist mitten in einer Geschichte, die sie gerade erzählt; es geht um eine Stressfraktur, die sie sich dadurch zugezogen hat, dass sie Tag für Tag in derselben Richtung um das Reservoir im Park gelaufen ist. Letztes Jahr vor dem New-York-Marathon habe man es festgestellt, und sie habe nicht teilnehmen können. Einer der traurigsten Tage ihres Lebens.
Ich sehe, dass Ben sie gern unterbrechen möchte, um uns allen die Extraportion Verlegenheit zu ersparen, die entsteht,
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