Und trotzdem ist es Liebe
wenn ein Dritter zu spät begreift, dass etwas Peinliches bevorsteht. Aber dazu müsste er ihr schon sagen, sie solle den Mund halten. Sie beendet ihre Erzählung mit den Worten: «Aber das ist eins meiner Ziele im Leben. Den Marathon unter dreieinhalb Stunden zu laufen.»
Es ärgert mich, dass wir ein gemeinsames Ziel haben – auch wenn meins nur darin besteht, den Marathon zu Ende zu laufen. Ich frage mich, welche Ziele sie sonst noch hat. Und ob Ben eins davon ist. Und Mutterschaft. Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben. Auch Ben sieht schmerzlich berührt aus, und das hilft mir ein bisschen, wenn auch nicht viel.
«Hi, Claudia.» Er schaut zu mir herauf.
«Hi, Ben.»
«Schön, dich zu sehen», sagt er.
«Gleichfalls. Wie geht’s dir?»
«Gut», sagt er. «War nur … ein bisschen laufen.»
Ich schaue dem Mädchen in die Augen und frage mich, ob Ben ihr von mir erzählt hat. Ob sie weiß, dass ich bis vor einer Woche offiziell seine Frau war.
«Oh, sorry, äh, das ist meine Freundin Tucker Jansen», stammelt Ben. «Tucker, das ist Claudia Parr.» Er zögert einen Lidschlag lang, bevor er meinen Mädchennamen ausspricht.
Ich präge mir den Namen ein, und sie lächelt kurz, höflich und freundlich. Leider offenbart es mir nichts; ich weiß immer noch nicht, ob sie weiß, wer ich bin. Ich bemerke jedoch, dass sie nur ganz wenige Fältchen an den Augen hat. Sie ist eindeutig unter dreißig. Ich würde sagen, nicht älter als sechsundzwanzig. Der Name Tucker scheint meine Schätzung zu bestätigen. Niemand, der in den sechziger oder siebziger Jahren geboren ist, heißt Tucker. Die Mode, Nachnamen als Vornamen zu nehmen, hat erst später angefangen. Sie ist ein Kind der Achtziger. Wahrscheinlich war sie fünf, als St. Elmo’s Fire in die Kinos kam. Und drei bei Flashdance . Es ist gut möglich, dass sie diese Filme überhaupt nicht gesehen hat.
Ich schlucke einmal, gehe die Treppe hinunter und gebe ihr die Hand. «Hi, Tucker. Nett, Sie kennenzulernen.» Zum Glück bin ich Linkshänderin. Meine rechte Hand ist nicht klebrig.
Jetzt stecken wir alle fest. Was können wir noch sagen? Wenn Tucker weiß, wer ich bin, kann sie gar nichts sagen. Wenn sie nicht weiß, wer ich bin, kann sie auch nichts sagen. Ben kann nicht gut erklären: «Das ist meine Exfrau» oder «Das ist meine neue Freundin». Oder: «Ihr beide habt übrigens eine Menge gemeinsam. Ihr hattet beide eine Stressfraktur! Nur dass Claudia sie hatte, weil sie auf der Rolltreppe gestolpert ist, nicht von zu viel Training. Und sie wollte den Marathon immer nur zu Ende laufen.»
Und ich kann schon gar nicht sagen: «Und, Ben? Glaubst du, dass mein Leben von Angst beherrscht ist?»
Also stehen wir einfach nur herum und lächeln gezwungen, bis ich sage: «Tja, ich war gerade in der Gegend. Dachte, ich sage hallo.»
«Das freut mich», sagt Ben.
«Ja. Aber jetzt muss ich wieder los», sage ich mit einem Blick auf die Uhr. Ich halte immer noch das halb aufgegessene Eis in der Hand. Jetzt tropft es auch aus einem kleinen Loch unten im Hörnchen. Im Geiste notiert: Wenn du das nächste Mal deinem Exmann nachstellst, entscheide dich für eine Eiswaffel .
Tucker sagt: «Na ja, ich muss dann jetzt auch …»
Das deutet sehr darauf hin, dass sie genau weiß, wer ich bin. Sie findet es unhöflich und peinlich, hier bei meinem Exmann stehen zu bleiben, während ich gezwungen bin, mich zu verdrücken. Man könnte sagen, das sei eine mitfühlende Reaktion, aber ich komme mir dabei umso erbärmlicher vor. Andererseits, vielleicht muss sie wirklich nach Hause. Vielleicht muss sie duschen und sich für den schicken, abendlichen Teil des Dates zurechtmachen. Vielleicht duschen sie aber auch schon zusammen. Sie wirkt völlig unbefangen – ein Mädchen, das mit einem neuen Boyfriend sofort unter die Dusche hopst, bei voller Beleuchtung.
Ich fühle mich versucht, Tucker gehen zu lassen, damit ich hierbleiben und mit Ben reden kann. Aber das Gefühl der Erniedrigung ist zu stark, und deshalb gehe ich besser als Erste. Ich nicke ihm kurz und förmlich zu und verabschiede mich. Dann verziehe ich mich eilig. Ich höre, wie Ben und Tucker ein paar Worte wechseln, und dann ist sie hinter mir und ruft meinen Namen. Sie weiß genau Bescheid.
Sie fragt, ob ich zur U-Bahn will. Ihr Akzent klingt nach Chicago. Mittlerer Westen , denke ich. Natürlich und gesund .
Ja, sage ich.
«Ich auch», sagt sie.
Na bravo . Ich darf ein paar Straßen weit mit ihr zur U-Bahn
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