Und trotzdem ist es Liebe
dreiundsechzigjährigen Frau. Sie wird einfach so lange warten, bis ich komme, und dann wahrscheinlich die Nacht bei uns verbringen und in ihre kichernde Plüschpantoffelphase verfallen, als hätte sie soeben die Sandra-Dee-Übernachtungsszene in Grease gesehen.
Ich atme tief durch und gehe mit gezwungenem Lächeln durch die Tür.
«Hi, Mutter!», sage ich und sehe ihr perfekt frisiertes Haar und die langen Fingernägel, frisch lackiert mit pflaumenfarbenem Nagellack. Sie sieht immer sehr gepflegt aus, aber heute ist einer ihrer besonders eindrucksvollen Tage. Ihr Alter ist ihr nicht anzusehen; man könnte sie tatsächlich eher für unsere Schwester als für unsere Mutter halten (im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen, die dieses falsche Kompliment von abgeschmackten Männern bekommen).
«Hallo, Claudia Darling!» Sie steht auf und umarmt mich auf eine affektierte Weise, bei der wir einander eigentlich nur mit Schultern und Wangen berühren.
«Ich wusste nicht, dass du heute in die Stadt kommst», sage ich, und es ist klar, was das heißt: Herrgott, Frau, wie oft habe ich dir gesagt, dass ich solche Überfälle nicht ausstehen kann?
«Ich wollte dich fotografieren, Claudia», sagt sie und streift sich den breiten schwarzen Kamerariemen über den Kopf.
Meine Mutter hält sich für eine Künstlerin. Ich habe sogar schon gehört, wie sie das Wort artiste benutzt hat, effektvoll französisch ausgesprochen. Das ist ziemlich amüsant, zumal wenn man die Wahrheit kennt – dass sie nämlich mit Aquarellen dilettiert und ein bisschen töpfert. Aber der Fairness halber muss ich ihr auch zugestehen: Zumindest hat sie Interessen und Hobbys und Leidenschaften, auch wenn zu diesen Leidenschaften oft unschickliche Affären gehören. Sie war nie eine von diesen Moms, die nichts Besseres zu tun haben, als eine Daily Soap nach der anderen zu verschlingen. Nicht dass sie sich keine Soaps angeschaut hätte, aber sie hat auch immer dafür gesorgt, dass ihr Leben genauso skandalös war wie das der unerhörtesten Figur in ihrer Lieblingssendung. Eine Zeitlang war sie auf geradezu gespenstische Weise besessen von Erica Kane, und einmal hat sie bei der Produktionsfirma von All My Children angerufen, um sich nach einer schwarzen Handtasche zu erkundigen, die Erica in einer Beerdigungsszene trug. Sie bekam die gewünschten Informationen, rief ihre persönliche Einkaufsassistentin bei Nordstrom an und bestellte sich schamlos die gleiche Tasche als Muttertagsgeschenk. (Meine Mutter hat sich ihre Geschenke immer selbst ausgesucht. Wenn mein Vater es mal versuchte, wurden seine Bemühungen nicht gewürdigt. «Hast du eine Quittung?», waren immer ihre ersten Worte.)
Wie auch immer – ihr neuestes Hobby ist die Schwarzweißfotografie. Ich habe sie noch nicht in Aktion gesehen, aber Maura erzählt, sie sei viel zu bemüht, und sie vergleicht die Fotos meiner Mutter mit ihren gequälten Haikus. Maura sagt auch, das Fotografieren sei eins der besonders nervigen Hobbys meiner Mutter: Mitten in einer Unterhaltung reißt sie plötzlich ihre Nikon hervor, zoomt auf dein Gesicht und fängt an zu knipsen, und dabei ruft sie: «Kinn runter. Jaa. Genau so. Oh! Phantastisch! Arbeite mit mir.» Außerdem verknipst sie Film über Film an x-beliebige tote Gegenstände wie Kaffeetassen und Hocker, und dann nennt sie es «Tassenserie» und «Hockerserie». Das alles ist unerträglich prätentiös.
«Ich hätte ja angerufen, aber ich wollte dich au naturel .»
«Na, so hast du mich jetzt auch.» Ich schaue an meiner Bürokleidung herunter – schwarze Hose, schwarze High Heels, graue Bluse, keine Accessoires. Wenn ich mich nicht mit einem Autor oder einem Agenten treffe, mache ich bei meinem Outfit so gut wie keine Umstände.
«Ich wollte dich in deinem normalen Arbeitsalltag einfangen. Ohne Schnickschnack. Einfach dich.»
Als ob ich mich für dich aufgedonnert hätte , denke ich, aber ich sage: «Hör auf.» Das meine ich natürlich wörtlich, aber ich lasse es doch scherzhaft klingen. Ich könnte es jetzt nicht ertragen, wenn sie die Gekränkte spielt.
«Im Ernst. Ich brauche nur einen oder zwei Filme. Das dauert nicht lange.»
Ich hole mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, gehe zu dem Sessel ihr gegenüber und lasse mich mit genervtem Seufzen hineinfallen. «Ich bin zu müde für so was, Mutter.»
Jess steht hinter meiner Mutter und sortiert einen Stapel Post. Sie hält inne und macht das Gaga-Zeichen, das schon in der Grundschule
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