Und trotzdem ist es Liebe
beliebt war: Man deutet mit kreisendem Zeigefinger auf die eigene Stirn und dann auf die andere Person. Außerdem schielt sie dabei, was dem Ganzen einen hübschen psychotischen Touch verleiht.
Ich muss lachen, und meine Mutter dreht sich um und will sehen, was da so komisch ist.
Jess wird sofort wieder ernst und studiert mit großem Interesse einen Katalog.
Meine Mutter sieht mich an und fährt fort: «Ich habe schon eine Menge Fotos von Jess gemacht, während wir auf dich gewartet haben. Aber nicht für meine Aufgabe, sondern nur zum Spaß. Jess ist so fotogen, nicht wahr?»
«M-hm», sage ich. Jess sieht tatsächlich auf ungefähr jedem Foto, das ich kenne, großartig aus. Ich glaube, das liegt daran, dass ihr Gesicht so symmetrisch ist; ich habe mal gelesen, dass es das ist, was einen Menschen schön macht. In dem Artikel stand, dass sogar Babys sich zu symmetrischen Gesichtern hingezogen fühlen.
«Dein Porträt ist für meine Aufgabe», sagt meine Mutter.
Sie könnte nicht verzweifelter darauf drängen, dass ich sie frage, um was für eine Aufgabe es sich handelt. Ich gebe nach. «Was ist das für eine Aufgabe, Mutter?»
«Ich habe dir doch von meinem Fotografie-Seminar erzählt, oder?»
Ich nicke. Ungefähr ein Dutzend Mal .
«Na ja. Und da arbeiten wir jetzt an Porträts.»
«Klingt cool.»
Mein Sarkasmus entgeht ihr. «Ja. Es macht so viel Spaß. Aber es ist auch eine Herausforderung, einen flüchtigen Ausdruck im Gesicht deines Objekts einzufangen.»
«Ja, das glaube ich.»
«Und das bringt mich zu dir. Ich habe dich als mein Objekt ausgesucht.»
Offensichtlich erwartet sie, dass ich begeistert bin, die Auserwählte zu sein. Aber ich frage: «Warum fotografierst du nicht Mauras Kinder? Oder Dwight?»
«Weil …» Sie zögert, als habe sie eine düstere Wahrheit zu enthüllen.
Jess nickt heftig und macht eine andere Geste, die sagt: Mach dich auf was gefasst .
«Unsere Aufgabe ist es, Schmerz zu fotografieren.» Sie runzelt die Stirn, als habe sie selbst eine schwere emotionale Bürde zu tragen.
Ich merke, dass ich schmale Augen mache. «Und du glaubst, dabei kann ich dir behilflich sein?»
«Claudia, Schatz. Bitte geh jetzt nicht in Abwehrhaltung.»
«Tu ich ja gar nicht», sage ich, und mein abwehrender Ton ist mir sehr bewusst.
«Ich möchte deinen Schmerz einfangen.»
«Aber mir tut nichts weh.»
«Doch, Claudia. Du leidest wegen Ben. Ich habe von Tucker gehört.»
«Mir geht’s prima.»
«Nein, junge Dame, dir geht es nicht prima. Überhaupt nicht.»
Jess zieht ein Gesicht, als mache sie sich auf einen Verkehrsunfall gefasst, und geht dann hinaus; wahrscheinlich will sie Trey anrufen.
«Du leidest hier , Claudia.» Sie überkreuzt die Hände und legt sie sanft auf ihr Herz. «Ich bin deine Mutter. Ich weiß so etwas.»
«Mutter. Ich kann mich damit jetzt wirklich nicht befassen.»
Sie schürzt die Lippen und sieht mich kopfschüttelnd an. Dann legt sie einen neuen Film ein, fummelt mit ihrem monströsen Objektiv herum und richtet es auf mich.
Ich hebe die Hand vor das Gesicht, die Handfläche nach außen gewandt. «Hör auf, Mutter.»
Klick. Klick .
«Mutter!», sage ich. Aber dann reiße ich mich zusammen, denn mir wird klar, dass meine Mutter wahrscheinlich zu gern eine leidende und wütende Claudia vor ihrer Linse hätte. In ruhigerem Ton sage ich: «Warum fotografierst du nicht Daphne?»
Bei diesem Vorschlag habe ich leise Gewissensbisse. Aber wahrscheinlich war es Daphne, die gepetzt hat. Außerdem hat Daphne meiner Mutter gegenüber eine viel höhere Toleranzschwelle. Sie reden fast jeden Tag miteinander.
«Wegen ihrer Unfruchtbarkeit, meinst du?», fragt meine Mutter, als sei das nur ein leichtes Gebrechen und keine herzzerreißende Katastrophe. «Das ist nicht das Gleiche. Nichts tut so weh wie ein gebrochenes Herz.»
Das möchte ich bestreiten, aber ich kann es nicht. Also sage ich nur: «Ich habe kein gebrochenes Herz.»
«Doch. Hast du.»
«Was ist denn mit Maura? Sie und Scott haben ständig Auseinandersetzungen.» Warum soll ich nicht auch meine andere Schwester unter den Bus schubsen – nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie es war, die über Tucker geplaudert hat.
«Maura liebt Scott nicht», sagt meine Mutter. «Die beiden hatten nie das, was du und Ben hattet. Du und Ben, ihr habt euch so sehr geliebt. Und ich vermute, ihr tut es immer noch.» Sie hebt die Kamera wieder, kneift ein Auge zu und zoomt mit einer Drehung des Handgelenks an
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