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Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Titel: Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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wurde stärker. Van Leeuwen dachte, dass es heute Nacht wahrscheinlich ein Gewitter geben würde. Er hörte eine Frau lachen, und irgendwo erklang Musik. Vor dem Café an der Ecke saßen die Gäste auf einer Holzterrasse über dem sacht gekräuselten Wasser; kleine Windlichter flackerten rot auf den Tischen.
    Die dicht belaubte Krone der Ulme vor den drei schmalen Fenstern schützte das Zimmer in den Sommernächten vor neugierigen Blicken aus den Häusern auf der anderen Seite der Gracht. Nicht, dass es viel zu sehen gegeben hätte: ein dunkelroter Orientteppich auf den Bodendielen, eine beige Polstergarnitur um einen Couchtisch mit einer Platte aus winzigen Keramikkacheln und ein wuchtiges Ebenholzregal voller Bücher mit abplatzenden Rücken waren die Hauptattraktionen. An den einstmals dottergelb gestrichenen, inzwischen ausgebleichten Wänden hingen zwei Gemälde, die nach dem Tod von Simones Onkel in ihren Besitz übergegangen waren –keine Kunst, nur handwerklich solide gefertigte Landschaften, eine Friedhofsinsel vor bewegter See, Venedig im Hintergrund, und eingeäscherte Häuserruinen unter einem erloschenen Vulkan, den Van Leeuwen abwechselnd für den Ätna oder den Vesuv hielt.
    In der Mitte des Zimmers hing eine Lampe aus durchsichtig geschliffenen Muschelschalen, eingefasst von einem korbförmigen Zinngeflecht, das ein Schattennetz an die Decke warf. In den Maschen zappelten die Lichtreflexe des Wassers unter dem Fenster wie kleine, nervöse Fische.
    Alles war immer noch so wie an dem Tag von Simones Abreise einen Tag nach Weihnachten. Die meisten ihrer Kleider hingen noch im Schrank, und es gab einen kleinen Stapel mit der Post, die weiter für sie kam: eine Bücherzeitschrift, Modekataloge, Werbeschreiben, Briefe entfernter Freunde. Das Einzige, was er abgenommen hatte, waren die Zettel überall: den Zettel mit der roten Beschriftung Achtung, heiß! am Herd, den mit der blauen Aufschrift Bitte spülen! an der Toilette, die Zettel, die den Dingen ihren Namen gaben: Fernseher, Telefon, Kühlschrank . Und die kleinen Zettelchen mit den Telefonnummern – sein Anschluss im Präsidium, seine Mobilnummer, die Nummer der Tagespflegerin.
    Die Zettel waren fort, aber die Erinnerung an Simone lebte weiter in jedem Raum. Das Schlafzimmer roch nach ihr, und er sah sie im Bett liegen oder im Wohnzimmer auf der Couch sitzen oder in der Küche am Esstisch. Er sah sie, wie sie gewesen war, bevor die Krankheit sie für immer verändert hatte. Aber er schloss seine Augen auch nicht vor dem Bild der in sich gekehrten, verwirrten Frau, die er an-und ausziehen musste; der er die Windeln gewechselt hatte. Er hatte beide geliebt, jede anders. Er redete immer noch mit ihr.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie es da draußen zugeht«, sagte er manchmal leise, wie er es früher immer getan hatte, nur dass er dann vergeblich auf ihr schlichtes »Nein, erzähl!« als Antwort wartete. Er hatte ihr oft von seiner Arbeit erzählt, auch als längst klar gewesen war, dass sie ihn nicht mehr verstehen konnte. Doch sie hatte gelächelt, hatte leise vor sich hin gemurmelt, nicht so schlimm, hatte besänftigende oder beunruhigte Laute von sich gegeben.
    Irgendwann in den vergangenen Monaten seit ihrer Abreise – so hatte er beschlossen, es zu nennen: ihre Abreise – war er in der Schublade der Anrichte im Wohnzimmer auf ein halbes Dutzend dicker Umschläge mit Fotos gestoßen. Schnappschüsse aus den ersten Jahren ihrer Ehe. Er hatte sie auf dem Küchentisch ausgebreitet, auf dem Schlafzimmerboden, auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer. Einige waren in der Sonne verblichen, andere gezeichnet von getrockneten Rotweinringen und Kaffeespritzern, ein paar in Schwarz-Weiß, aber die meisten in Farbe.
    Wenn Van Leeuwen sie anschaute, stieg er in eine Zeitmaschine, fuhr zurück in ein anderes Amsterdam, das neu und aufregend für sie beide war. Damals waren Simone und er fast ununterbrochen zusammen gewesen, jede dienstfreie Minute hatten sie miteinander verbracht, in Cafés, im Kino, beim Picknick im Vondelpark, im Rijksmuseum, auf Radtouren rund um die Stadt. Er betrachtete die Fotos, und es kam ihm vor, als würde ihr gemeinsames Leben erst jetzt sichtbar, wo es ein für alle Mal vorbei war, sichtbar im Licht des Verlusts.
    Es gab Aufnahmen von ihnen zusammen, von ihm allein, von Simone ohne ihn. Ihr Mienenspiel: immer etwas überrascht, manchmal ein wenig abweisend, meistens aber fröhlich und nur selten der Hauch einer Pose. Die Wärme

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