Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
gut siebzehn Jahren Brust und Rücken zierten, ließen erkennen, dass die Muskeln nicht nur sportlichen Leistungen gedient hatten.
Er ging in die Küche, entkorkte eine Flasche Montepulciano, suchte ein sauberes Glas und nahm beides mit in sein Arbeitszimmer. Der Arbeitsraum enthielt nicht mehr als einen Schreibtisch aus Teakholz mit Rüsselbeinen, zwei deckenhohe Bücherregale und einen Sessel, bezogen mit rissigem ingwerfarbenen Leder. Einige der Polsternägel waren im Lauf der Jahre spurlos verschwunden, aber der verbliebene Rest hielt Polster und Holz zusammen, und das reichte Van Leeuwen, bis er vielleicht eines fernen Tages die Zeit fand, ihn zur Reparatur in die Polsterei zwei Hausnummern weiter zu schaffen.
Auf dem Schreibtisch gab es ein Notebook auf einer grünen Filzunterlage und ein Holzschälchen mit einem Federhalter, mehreren Bleistiften, Filzschreibern und Textmarkern. Neben der Tischlampe stand ein weiteres Foto von Simone und ihm in einem schmucklosen Metallrahmen. Sie waren nicht mehr ganz so jung gewesen damals, aber er, so schien es, hatte selbst auf den früheren Bildern wenig Jugendliches an sich gehabt: Immer war die Stirn in grüblerische Falten gelegt, immer blickten die Augen ernst, fast schwermütig. Wenn er lachte, wirkte es ungeübt, selbst auf Fotos.
Sein Haar war noch nicht so grau, seine Statur war weniger stämmig. Aber das kämpferische Kinn mit dem kleinen Grübchen, der schmale Mund und die kräftige Nase, die schon gebrochen ausgesehen hatte, bevor sie tatsächlich gebrochen worden war, machten sein Gesicht zu einem, das Frauen seit jeher gern interessant genannt hatten.
Simone dagegen lag fröhlich lachend mit einem Picknickkorb im Schatten einer Pinie, dahinter im Sommerglast die Stadtmauern von Siena. Auf dem Feldweg neben der Pinie stand ein dunkelroter Saab, das Fahrzeug ihrer mittleren Ehejahre. Den mokkabraunen Alfa, den er immer noch fuhr, hatte Simone erst später von einer ihrer Reisen ohne ihn mitgebracht.
Unsere letzte gemeinsame Reise , dachte der Commissaris, vor achtzehn Jahren, damals, als Simone noch gesund war. Wir hätten öfter Urlaub machen sollen, vielleicht wäre dann alles anders gekommen; vielleicht wäre sie dann nicht allein nach Italien gefahren.
Er wartete, bis der frisch entkorkte Wein ausreichend geatmet hatte, dann schenkte er sich ein. Den ersten Schluck ließ er kurz auf der Zunge liegen, ehe er ihn trank. Es war ein Gefühl, als ginge eine rote Blume in seinem Mund auf. Nach dem zweiten Schluck trat er an eins der Bücherregale und hockte sich davor auf die Fersen.
In dem Regal, das von Wand zu Wand und fast bis unter die Decke reichte, gab es eine ganze Reihe medizinischer Fachbücher, die meisten über Alzheimer, Parkinson, Multiple Sklerose und verwandte Krankheiten von Gehirn und Nervensystem. Als Simone krank geworden war, hatte der Commissaris angefangen, sie zu lesen,und als die Ärzte ihr nicht helfen konnten, hatte er damit wieder aufgehört.
In der zweiten Reihe standen Biografien von berühmten Verbrechern, von Raub-und Lustmördern, von Einzeltätern, Serienkillern und Massenschlächtern, von Generälen und Politikern, angefangen mit Alexander dem Großen über Julius Cäsar, Napoleon, Adolf Hitler und Stalin bis zu Milosevic, Saddam Hussein und George W. Bush; es gab Bücher über Charles Manson, Gilles de Rais, Monsieur Verdoux, Jack the Ripper, den Würger von Boston, Fritz Haarmann und viele andere.
In der dritten und vierten Reihe standen Lexika, Kochbücher, Atlanten und Reiseführer, aber vor allem Kunstbücher: Bildbände, Monografien, Romane über Caravaggio, Giotto, Michelangelo, Rembrandt, Van Gogh, Velazquez und Francisco Goya. Sie hatten nur eine Aufgabe: Trost zu spenden.
Die Erde hatte Krankheiten hervorgebracht, denen die Ärzte hilflos gegenüberstanden. Sie hatte Verbrecher geboren und hatte zugelassen, dass sie das Gesicht der Welt, sogar das der ganzen Menschheit, für immer veränderten. Aber sie hatte auch Malern, Komponisten und Schriftstellern den Stoff geliefert, um sie mit Kunst zu prägen, mit Gemälden, Sinfonien und Theaterstücken, die am Ende alle Verbrecher und sogar die Krankheiten überdauern würden.
Auf der anderen Seite des Zimmers, sodass Van Leeuwen es von seinem Schreibtisch aus sehen konnte, hing ein Poster von einem Goya-Capriccio. Es zeigte den Künstler, schlafend zusammengesunken an seinem Arbeitstisch, während aus den düsteren Schatten seines Zimmers – oder seiner Seele –
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