Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
Fledermäuse aufstiegen und flatternd seine Albträume bevölkerten. Darunter stand: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.
Goya bedeutete Van Leeuwen am meisten, von ihm konnte er etwas lernen. Der spanische Maler besaß das Auge eines Polizisten. Er hatte einen Blick für die Opfer, und er schaute hinter die Masken der Täter. Er wusste, wozu Menschen fähig waren, was sie anderen Menschen antaten; er sah in ihre Herzen. Er kannte die Waffen, diesie benutzten, und wusste, welche Wunden sie schlugen. Mit seinem Pinsel malte er Röntgenbilder, Skizzen von Tatorten. Er malte Krieg, Mord und Wahnsinn: die irdische Hölle. Er malte die Verlorenen im Gefängnis leerer Seelen. Er war mit Schuld und Unschuld vertraut und überließ das Urteil dem Betrachter.
»Francisco de Goya y Lucientes – Pintor del Rey« , murmelte Van Leeuwen, »Maler des Königs – es gibt nichts Neues mehr, wenn man deine Gemälde, deine Skizzen gesehen hat. Nichts, was einen noch überrascht, weder Auschwitz noch Srebrenica oder Guantánamo Bay, nichts.«
Der tote Amir Singh im Kielraum des Hausbootes hatte ausgesehen wie von Goya gezeichnet, eine scharf konturierte Kohleskizze dessen, was Menschen anderen Menschen antun konnten. Van Leeuwen nahm einen Reiseführer mit dem schlichten Titel Indien aus dem Regal und suchte im Register nach dem Stichwort Sikh .
Der Gründer der Sikh-Religion hieß Nanak und lebte von 1469 bis 1539, las er . Nanak stammte aus dem Punjab, wo sich Muslime und Hindus nähergekommen waren als irgendwo sonst in Indien. Schon als Kind fühlte er sich ebenso von den islamischen wie von den hinduistischen Dichtern und Heiligen angezogen. Er pilgerte nach Mekka und zu den heiligen Stätten des Hinduismus. Sein Weggefährte war ein islamischer Musiker. Beflügelt von der Erkenntnis, dass das Wesen beider Religionen gleich ist, verkündete er seine Botschaft der Einheit.
Anders allerdings als die Hindus mit ihrer Vielzahl von Göttern glauben die Sikhs nur an einen Gott und verehren auch keine Götterbilder. Zwar lehnen sie das Kastensystem ab, erkennen aber die Lehre von Karma und Wiedergeburt an. Alle Sikhs tragen den Nachnamen Singh, nach ihrem zehnten Guru, Govind Singh. Die Männer haben Bärte und wickeln ihr Haar, das sie niemals schneiden lassen, in einen Turban. Jeder Sikh schmückt sein rechtes Handgelenk mit einem stählernen Armreif.
Der Armreif war da, dachte der Commissaris, aber der Tote hatte weder Bart noch Turban, und sein Haar war kurz geschnitten und so gepflegt, wie es drei Tage nach dem Tod noch sein konnte. Lages daran, dass er sich zu schnell in einen Sikh verwandeln musste, sodass keine Zeit mehr blieb, Haare und Bart wachsen zu lassen? Aber falls das zutraf, welchem Zweck diente es?
Sikhs rauchen nicht, trinken keinen Alkohol und haben sehr strenge religiöse und moralische Grundsätze. Obwohl nur zwei Prozent der indischen Bevölkerung dieser Religionsgemeinschaft angehören, ist sie doch eine überaus selbstbewusste und einflussreiche Minderheit.
Andererseits, dachte der Commissaris, gab es Muslime, die Schweinefleisch aßen, Alkohol tranken und keineswegs fünfmal am Tag mit dem Kopf in Richtung Mekka niederknieten, um zu beten. Es gab Christen, die gegen jedes einzelne der zehn Gebote verstießen und sich sämtlicher Todsünden ihrer Religion schuldig gemacht hatten. Was sprach dagegen, dass Amir Singh ein schlechter Sikh gewesen war, aber dennoch ein Sikh? War er deswegen ermordet worden?
Die Ausbreitung der Sikh-Religion, las Van Leeuwen weiter, beunruhigte die orthodoxen Muslime, und so begann die Verfolgung der Sikhs. Wegen angeblicher Aufwiegelei wurde 1606 ihr damaliges Oberhaupt, Guru Arjung, zum Tode verurteilt. Sein Märtyrertum veranlasste seine Nachfolger, über die Notwendigkeit der Selbstverteidigung nachzudenken. Unter ihrem zehnten Guru, Govind Singh, verwandelte sich die friedliche Glaubensgemeinschaft in eine Organisation mit durchaus kriegerischem Charakter. Es entstand eine schlagkräftige Sikh-Armee, die unter dem Namen Khalsa bekannt wurde.
Van Leeuwen schloss das Buch. Er trank das Glas aus und dachte nach, aber seine Gedanken drehten sich im Kreis. Immer wieder schweiften sie ab zu Simone und wie er sie vorgefunden hatte, als er das letzte Mal bei ihr gewesen war, nur dass er es nicht ändern konnte und dass es deswegen auch keinen Sinn hatte, sich den Kopf darüber zu zerbrechen.
Er schenkte sich noch einen Schluck ein und versuchte sich auf den Toten zu
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