Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
konzentrieren, auf Amir Singh und seine Freundin Carien Dijkstra. Auf der Fahrt zur Gerichtsmedizin hatte sie kein Wort mehr gesagt, und als sie dort eingetroffen waren, hatte er sie in die klimatisierte Leichenkammer gebracht. Er hatte sie zu demTisch aus rostfreiem Edelstahl geführt, auf dem Amir lag, und es war leichter gewesen als sonst, weil sie nicht zu den Menschen gehörte, die auf einen Irrtum hofften.
Oft begleitete man den nächsten Angehörigen des Opfers in die Leichenkammer, man führte ihn zu dem Tisch aus rostfreiem Edelstahl, auf dem die tote Frau oder der tote Mann oder das tote Kind lagen, und weil der Körper zugedeckt war, konnte der Angehörige oder Freund oder Bekannte bis zuletzt denken, es handele sich vielleicht doch um einen Irrtum, aber dann wurde das Tuch zurückgeschlagen, und es gab keinen Zweifel mehr, keine Hoffnung, denn um einen Irrtum handelte es sich fast nie.
Carien hatte nichts gesagt. Van Leeuwen hatte das weiße Tuch angehoben, und sie hatte auf den nackten Körper darunter hinuntergeschaut, auf das zerschnittene Gesicht und die Brust, die schon wieder zugenäht worden war. Bei dem Anblick war ihr ein Laut entfahren, ein winziger hoher Laut, der oben in der Brust entstanden und in der Kehle stecken geblieben war.
»Ist das Amir Singh?«, hatte er gefragt.
Ihre Antwort war so leise gewesen, dass er sie kaum verstanden hatte. »Das wissen Sie doch.« Er musste noch einmal nachfragen, denn für die Akten musste sie die Frage beantworten, und diesmal sagte sie: »Ja, das ist Amir.«
Er hatte gesagt, das sei alles gewesen, sie könne nun nach Hause gehen, aber sie war stehen geblieben. Ohne ihn anzuschauen, hatte sie gefragt: »Darf ich nicht noch etwas bei ihm bleiben? Ich möchte mich gern von ihm verabschieden. Ich störe hier doch niemanden.«
Und deswegen saß er jetzt in seinem Arbeitszimmer und trank, weil er sie noch vor sich sah neben dem Tisch aus rostfreiem Edelstahl. Blass und gefasst und allein, aber bereit, Abschied zu nehmen. Simone hätte es genauso gemacht, dachte er. Er trank das zweite Glas aus und nahm Flasche und Glas mit ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher einschaltete.
Auf dem Bildschirm bewarfen junge Palästinenser israelische Soldaten mit Steinen. Israelische Soldaten erschossen dafür mehrere palästinensische Kinder. Junge Palästinenser weinten und schrienund schwenkten Kalaschnikows. Eine junge Palästinenserin sprengte sich in einem voll besetzten Bus in die Luft. Junge Israelis weinten und schrien und schwenkten Uzis.
In Bagdad schossen amerikanische Soldaten auf Iraker, und Iraker schrien und schossen auf amerikanische Soldaten. In Teheran schossen Polizisten auf Studenten, und Studenten warfen Molotowcocktails auf Polizisten. In Grosny nahmen tschetschenische Rebellen Kinder als Geiseln, und als die russischen Sturmtruppen kamen, sprengten die Rebellen sich und die Kinder in die Luft, und die jungen russischen Soldaten erschossen alle Überlebenden, und überall wurden im Schein flackernder blauer und roter Lichter blutüberströmte Körper auf Tragbahren gelegt. Arme und Beine lagen in roten Pfützen, und immer weinte und schrie jemand im Hintergrund.
Van Leeuwen leerte das Glas und schaltete weiter. Er wollte wissen, ob die Medien sich schon mit dem Toten auf dem Hausboot beschäftigten. Im nächsten Kanal sah er eine Talkshow, in der ein strenger Moderator mit Doktortitel eine junge Frau fragte, warum sie ihr Neugeborenes nicht zur Adoption freigegeben habe, statt es in eine Mülltonne zu werfen, aber bevor die Frau antworten konnte, schaltete Van Leeuwen weiter und landete bei einer weiteren Nachrichtensendung, und als er zu der Talkshow zurückschaltete, fragte der strenge Moderator gerade einen Kindermörder, wie er seine Opfer angelockt und umgebracht habe, aber bevor der Kindermörder antworten konnte, kam ein Werbespot für Kinderschokolade und ein anderer für Videospiele, und Van Leeuwen schaltete um, und auf dem nächsten Kanal gab es ein Medium, das sich mit einem Toten unterhielt, und der Tote sandte eine Botschaft aus dem Jenseits und sagte, dass er allen verzieh, die ihm im Leben Unrecht getan hatten, auch seinem Mörder, und auf dem nächsten Kanal sah Van Leeuwen einen freundlichen Imam, der in einer Utrechter Moschee zum heiligen Krieg gegen die Ungläubigen aufrief, und Van Leeuwen zappte weiter und stieß auf eine Gruppe freundlich wirkender Jungen und Mädchen, die einen Mitschüler gefoltert und die Bilder davon ins
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