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Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Titel: Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Rauschen ertönte von morgens bis abends, Tag und Nacht, aber das Wasser strömte nicht immer in dieselbe Richtung. Je nachdem, ob Ebbe oder Flut war, floss es zeitweilig nordwärts, dann wieder nach Süden, aber nie gelang es Bruno, den kurzen Moment des Wechsels abzupassen, in dem sein ewiger Gesang einmal innehielt. Es geschah, ohne dass er es merkte. Ehe er sich versah, liefen dieselben großen und kleinen Wellen von rechts nach links an ihm vorbei, statt umgekehrt, aber stets in derselben zielstrebigen Eile.
    Der Friedhof lag hinter der Kirche am Ufer des Flusses. Die Kirche war aus braunem Holz, und das Dach und der Wetterhahn auf dem Turm waren verwittert und moosbewachsen. Die meisten Gräber mussten ohne Blumen auskommen. Viele der Kreuze standen schief, inmitten von Unkraut, aber am Fuß der Steinmauer wuchsen wilde Erdbeeren, die fast nach gar nichts schmeckten.
    Mit acht Jahren kannte Bruno jeden Namen auf den Grabsteinen und alle Inschriften, und im Lauf der Zeit erlebte er, wie Gräber gänzlich zuwuchsen und Kreuze sich aus der Erde lösten, bis der Sturm sie eines Tages umstürzte. Wenn er an seinem Lieblingsplatz unter einer der Trauerweiden saß, hörte er das Brausen des Flusses und den Wind, der um die Friedhofsmauer strich. Er schloss die Augen und versuchte, nur zu hören: das Rascheln der hohen Grashalme, die überall auf dem Friedhof wuchsen; das Ticken kleiner Insekten neben ihm zwischen den Wurzeln; das eiserne Jammerndes Wetterhahns auf der Kirchturmspitze, wenn der Wind sich drehte.
    Er dachte, dass die wilden Erdbeeren wahrscheinlich nach nichts schmeckten, damit die Toten keine Sehnsucht bekamen. Einmal fand er ein Stück Knochen im hohen Gras, ein anderes Mal sogar einen Zahn, der zu klein war, um einem ausgewachsenen Menschen zu gehören. Er nahm ihn mit und trug ihn eine Zeit lang in der Hosentasche herum, bis er ihn bei den Erdbeeren begrub.
    Er blieb gern für sich allein.
    Aber das alles war vor dem Tag gewesen, an dem er das Mädchen mit der roten Windjacke zum ersten Mal gesehen hatte, erst auf dem Fahrrad im Regen und später in der Kirche bei der Frühmesse. Er hatte Simone gesehen, und noch heute konnte er sich an das Gefühl dabei erinnern: wie wenn er beim Laufen gestürzt war und sich die Haut abgeschürft hatte, das feuchte Brennen, nur nicht am Knie, sondern in der Brust.
    Er konnte sich daran erinnern, weil es wieder da war, wenn er sie in der Klinik besuchte.
    Er ging durch die bunt bemalten Gänge, vorbei an dem Café und dem Supermarkt und den Bänken rings um den kleinen Dorfplatz, der sich unter dem Glasdach im Eingangsbereich erstreckte. An den Tischen des Cafés saßen noch ein paar Männer und Frauen. Sie sahen aus wie normale Gäste in einem normalen Café, und nur ihre leeren Mienen und die vernachlässigte Kleidung verrieten, dass sie keine Besucher waren, sondern Patienten.
    Von irgendwoher – aus einem der Zimmer – erklang leise Musik, La vie en rose . Vor den vom Boden bis zur Decke reichenden Glasfenstern lag der dunkle Park und dahinter die Wiesen, auf denen man tagsüber Kühe und Schafe sehen konnte. Van Leeuwen ging durch den ganz in Ocker und Umbra gehaltenen Korridor bis zu dem Wohnbereich, in dem Simone mit fünf anderen Frauen in zwei kleinen Zimmern lebte. Er wusste nicht, ob sie schon zu Bett gegangen war; ob ihr jemand gesagt hatte, dass er sie besuchen kam.
    Er bog um eine Ecke, und da sah er sie. Sie saß allein auf einerBank im Flur, geschminkt und angezogen und neben sich ihren kleinen Reisekoffer. Sie trug ein malvenfarbenes Baumwollkleid ohne Gürtel, eine lilafarbene Strickjacke und dunkelrote Turnschuhe mit offenen Schnürsenkeln. In einer Hand hielt sie einen Teelöffel, an dem sie zu lutschen schien. Die freie Hand strich immer wieder eine Haarsträhne hinter das linke Ohr, eine Geste aus einer lang zurückliegenden Vergangenheit, der Zeit, als sie noch langes Haar gehabt hatte. Jetzt trug sie es streichholzkurz.
    Plötzlich sah Van Leeuwen sie wieder vor sich, die Frau aus jener Zeit der langen blonden Haare, die erfolgreiche Journalistin, die sein Herz vor Stolz schwellen ließ – das Bild eines anbetungswürdigen, lockenden, immer siegreichen Wesens: seine Ehefrau.
    Langsam ging er auf die Bank zu. Die Frau, die Simone gewesen war, hatte nur Augen für eine schwarz-weiße Katze zu ihren Füßen. Die Katze saß da und putzte sich, ab und zu sah sie auf und miaute. Die Frau betrachtete sie ausdruckslos, die etwas zu stark

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