Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall
zu viel gesagt und müsste die Worte noch einmal genau betrachten, um sich darüber klar zu werden, wie viel Schaden sie schon angerichtet hatten. Sie ließ den Löffel im Rest der Suppe liegen.
»Radschiv, Shak, Pamit«, sagte sie dann mit einem ungeduldigen Seufzen, »die Familie geht ihnen über alles. Ihre Vorstellung vom Paradies auf Erden: eine Frau, die Söhne, der Stolz eines Mannes. Diese ganzen Bande, enger als eng, klebrig wie Honig – Glück, das jeder so selbstverständlich absondert wie eine Tanne das Harz. Aber eine Familie ist ein mörderischer Dschungel, in dem vergiftete Pfeile fliegen und Würgeschlangen getarnt auf niedrigen Ästen liegen. Jeder Morgen bringt eine neue Falle, jeder Schritt wird zur tödlichen Expedition und kann im Fangeisen enden. Und am Abend zählt man seine Verletzungen. Leckt die Wunden.«
»Mijnheer Sharma hat mir von der Razzia des Zolls erzählt, die am Tag vor Amirs Auftauchen hier stattgefunden hat«, sagte der Commissaris unbeeindruckt. »Als die Beamten abgerückt sind, sollenSie gesagt haben, die kommen wieder . Was hat Sie darauf gebracht, Mevrouw Halawi?«
»Habe ich das gesagt?« Mira runzelte die Stirn, dann lachte sie plötzlich. »Ach ja, jetzt weiß ich wieder – das war, weil Shak sich so großspurig benommen hat. Die Männer sind in ihre Dienstfahrzeuge gestiegen und vom Hof gefahren, und da hat Shak Radschiv in die Hosentasche gegriffen und eine Handvoll Bonbons herausgeholt und hinter den Wagen hergeschmissen. Radschiv hat immer Bonbons in den Taschen, für die Kinder in der Gegend, wenn sie mal auf den Hof kommen – er hat Bonbons für die Kinder und immer ein paar Euro für die alten Leute, die mit ihrer Rente nicht auskommen. Er leiht es ihnen nicht, er schenkt es einfach her. Also jedenfalls, Shak schmeißt die Bonbons hinter den Wagen her und ruft großspurig: Auf Wiedersehen, die Herren! Hier, für eure Kinder, von Radschiv Sharma! Und beehrt uns bald wieder! Deswegen habe ich gesagt, keine Sorge, die kommen wieder, weil ich das Gesicht von dem Mann im schwarzen Wagen gesehen habe.«
»Und wer könnte die Schlange im Paradies der 1000 Gewürze sein?«, fragte der Commissaris. »Shak? Oder Amir?«
»Sie sind der Polizist.«
»Shak ist stolz und ehrgeizig und eifersüchtig«, sagte Van Leeuwen. »Er denkt, er könnte das Geschäft besser führen als sein Vater, das merkt man. Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, denkt er auch, dass Sie eigentlich ihm gehören müssten, und nicht Radschiv.«
Mira stand auf und trug den Suppenteller zur Spüle. »Möchten Sie nicht doch etwas Huhn? Einen Schenkel vielleicht?«
»Danke, nein.«
Mira blieb an der Spüle stehen und betrachtete das schmutzige Geschirr. »Sie haben das richtig erkannt, Shak findet, dass ich zu schön und zu jung bin für seinen Vater. Er denkt, die Firma gehört eigentlich ihm, und ich gehöre eigentlich ihm, aber ich denke das nicht. Was ich Radschiv verdanke, kann der Junge nicht aufwiegen, nicht mit seiner Jugend oder mit seiner Kraft. Er behandelt mich ohne jeden Respekt, weil ich keine reine Inderin aus der alten Heimat bin. Wäre ich das, würde er mich respektieren, obwohl wirnicht verheiratet sind, sein Vater und ich. Er würde mich respektieren. Aber ich bin nur zur Hälfte Inderin, da gibt es noch die niederländische Hälfte, und die ist leicht zu haben, denkt er. Billig. Er denkt, dass diese Hälfte nur auf das Geld seines Vaters scharf ist. Auf sein Geld.«
»Hat er das von Amir auch gedacht?«
»Natürlich, gerade als er gesehen hat, wie sein Vater diesen jungen Fremden aufgenommen hat.« Sie lächelte warm. »Amir war noch keine Woche bei uns, da gab Radschiv ein großes Fest für ihn – ein Familienfest, wie für einen verlorenen Sohn! Haben Sie schon mal einen Bollywood-Film gesehen?«
Van Leeuwen fragte: »Meinen Sie diese endlosen bunten Filme, in denen andauernd getanzt, gesungen, gegessen und am Ende ge-heiratet wird?«
»Genau die«, bestätigte Mira, »und genau so ging es an diesem Abend hier in der Halle zu, an einem prächtig gedeckten Tisch, mit dem besten Geschirr, Kerzen, alles. Ich hatte den ganzen Nachmittag in der Küche gestanden und gekocht, es gab raan-i-mirza , das ist in geronnener Milch gegarte Lammkeule mit Kardamom und Kreuzkümmel, dazu Brot, naan und partha . Außerdem hatte ich Reispfannkuchen und Kokos-Chutney gemacht. Radschiv hatte unseren Plattenspieler aus dem Wohnwagen herbeigeschafft, und wir hörten Musik aus Indien,
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