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Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall

Titel: Und verfuehre uns nicht zum Boesen - Commissaris van Leeuwens zweiter Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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richtige Volkslieder, und zur Feier des Tages öffnete Radschiv eine Flasche Wein nach der anderen, und es dauerte nicht lang, bis alle ziemlich betrunken waren.«
    »Ich dachte, Sikhs trinken keinen Alkohol«, sagte Van Leeuwen.
    »Und ich dachte, Christen dürfen nicht töten«, antwortete Mira. »Jedenfalls – plötzlich begann Amir zu weinen, so glücklich und dankbar schien er zu sein. Und Radschiv, mein Radschiv lachte, weil es so leicht war, jemandem zu helfen, jemandem Trost zu spenden. Er dachte, er weiß, was Amir fühlt, er kennt seine Einsamkeit, die auch mit seiner Hautfarbe zu tun hatte, mit der Verlorenheit in der kalten, engherzigen Welt der Weißen. Aber er wusste nicht, dass sein eigener Sohn einsamer war; dass sein Schmerz stärker war. Er gab den Trost dem Fremden. Er umarmte mich, und dann umarmte erPamit und Shak, und gleich danach Amir, und er merkte gar nicht, wie Shak ihn innerlich wegstieß. Radschiv wollte singen und tanzen, und er war so ausgelassen, dass er auch nicht darüber nachdachte, ob Amir die Wahrheit gesagt hatte und ob er wirklich niemanden in diesem Land kannte, niemanden außer uns. Und weil er nicht darüber nachdachte, dachte ich auch nicht darüber nach. Nur Shak, dem konnte man ansehen, dass er nachdachte. Man konnte sehen, wie es in ihm kochte und brodelte, vor allem, als Amir aufsprang und zu tanzen begann, erst mit Radschiv, dann mit mir und schließlich sogar mit Pamit, der bald am ausgelassensten von allen war. So viel Glück leuchtete auf seinem Gesicht – sein Herz flog Amir nur so zu! Schließlich reichte es Shak. Er stieß seinen Stuhl zurück und sagte zu Pamit, komm, Zeit, schlafen zu gehen .
    Aber der Kleine wollte noch nicht ins Bett, er wollte noch aufs Dach, und deswegen ging Shak mit ihm aufs Dach. Das machen sie manchmal – sie klettern von der Balustrade in der Halle durch eines der unvergitterten Oberlichter und dann die Feuerleiter hoch aufs Dach. Von da aus hat man einen Wahnsinnsblick auf die Stadt, auf die ganzen funkelnden und schimmernden Lichter auf der anderen Seite des Wassers, wie ein Bienenstock. Man kann da sitzen, und in warmen Nächten riecht die Luft nicht nach den Abwässern in den Gullys, sondern nach Jasmin und Limonen, und man kann sich vorstellen, es wäre Bombay oder Kalkutta da auf der anderen Seite und das IJ wäre der Ganges. Da saßen sie also und sahen der Nacht zu, während von unten die Musik heraufschallte, und Shak sagte, wir müssen uns hüten, Pamit, hörst du? Wir müssen gut aufpassen und die Familie beschützen.«
    »Woher wissen Sie das?«, fragte der Commissaris.
    »Pamit hat es mir erzählt.« Mira wickelte die Reste des Huhns in Aluminiumfolie. »Er erzählt mir immer alles, was Shak macht oder sagt. Sein großer Bruder ist sein Held. Und Amir ...« Plötzlich hielt sie inne, ließ das Huhn sinken und fragte mit fast tonloser Stimme: »Hat er gelitten? Als er umgebracht worden ist – hat er ... Hat er da sehr gelitten?«
    »Ja«, sagte der Commissaris. »Das hat er.«

13
    Van Leeuwen dachte, dass sie nicht gefragt hatte: Wer tut so etwas? Im Allgemeinen war das die Frage, die fast immer gestellt wurde, besonders von Frauen: Wer tut so etwas? »Als fürchtete sie sich vor der Antwort«, sagte er am Schluss seiner Zusammenfassung des Gesprächs für Hoofdinspecteur Gallo und Brigadier Tambur. Er sah aus dem Fenster auf der Beifahrerseite, während der Einsatzwagen durch den Tunnel unter dem IJ fuhr. »Als hätte sie eine Ahnung, die sie zu verdrängen sucht.«
    »Warum hast du nicht nachgehakt?«, wollte Gallo wissen.
    »Sie ist noch nicht so weit.« Van Leeuwen betrachtete die vorbeifliegenden weißen Kacheln, die orangen Lampen. »Ich will nicht, dass sie zumacht.«
    »Jedenfalls lässt sie Shak nicht gerade in einem günstigen Licht erscheinen«, sagte Julika.
    »Vielleicht will sie uns von Radschiv ablenken«, meinte Gallo.
    »Die Frage ist, ob sie das mit Absicht tut oder ob es einfach die Wahrheit ist, die dieses Licht auf Shak wirft«, sagte der Commissaris. »Was habt ihr für einen Eindruck bei den anderen, bei Radschiv und Shak? Lügt einer von denen? Und wenn ja – wer? Lügen alle, lügt keiner? War Amir wirklich ein Kuckucksei, das jemand den Sharmas ins Nest gelegt hat? Und wenn ja, wer und warum? Wir drehen uns immer wieder um den gleichen Punkt. Wer war der Kuckuck? Der Mann aus der Vergangenheit, von dem Carien gesprochen hat?«
    »Diese Razzia vom Zoll«, sagte Gallo. »Ob das in irgendeinem

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