Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
und den Polizeipräsidenten nannte er Ayatollah, und wenn er dafür in die Hölle kam, war es Allahs Wille.
Van Leeuwen hatte nicht studiert. Er gehörte keinem Club an, keinem Kreis, keiner Verbindung. Er hatte keinen Stallgeruch. Niemand konnte ihn verstoßen oder ausschließen; er musste auf niemanden Rücksicht nehmen, und seine Pension war ihm sicher. Gallo hatte Recht – es kümmerte ihn nicht, was die Taliban dachten, aber als Vogelscheuchen waren sie durchaus zu gebrauchen.
»Euch sollte es interessieren«, sagte er. » Wer tut denn so etwas – Ton, das hast du gestern selbst gesagt. Ein Verbrechen wie das hier hat es in Amsterdam noch nicht gegeben, in ganz Holland nicht, und ihr könnt sicher sein, dass der Hoofdcommissaris euch genau auf die Finger schaut, und wenn einer von euch Mist baut, rollen Köpfe auf dem Marktplatz !«
Er betrachtete den Regen, der gegen das Fenster schlug. Oder vielleicht betrachtete er das Fenster und die Straße darunter, und der Regen war nur eine Zugabe, sorgte für die Atmosphäre am ersten Tag einer Morduntersuchung, wenn noch alles undurchsichtig und verschwommen schien. Aber die kleinen Rinnsale und zerlaufenden Tropfen auf der Scheibe waren gar nicht undurchsichtig. Dahinter konnte man die Straßenbahn sehen und die Haltestelle und die Ulmen an der Elandsgracht, von deren Ästen das Wasser troff. Man brauchte bloß aufzustehen und ans Fenster zu treten. Also nur ein ungenaues Bild, wie so viele.
Er knipste die Schreibtischlampe an. »Woher stammt der Junge ?«, fragte er. »Amsterdam ? Utrecht ? Den Haag ? Berlin ? London ? Wie heißt er ? Und der Täter, wo kommt der her ? Von hier ? Oder war es ein Tourist, ein Mörder, der herumreist, vielleicht in ganz Europa ?«
Gallo sagte: »Ich glaube nicht, dass er aus Amsterdam ist. Wir haben zwischen zwanzig und dreißig Morde pro Jahr, und in den meisten Fällen sind die Täter nicht von hier.«
Der Commissaris schlug den Bericht der Gerichtsmedizin auf. »Warum musste gerade dieser Junge sterben ? Kannte er seinen Mörder ? War er ein zufälliges Opfer, oder wurde er absichtlich ausgesucht ? Und wenn, hatte das mit ihm zu tun oder mit dem Täter ? Passte er in einen Plan, oder war er der Anlass für einen Plan ?«»Wer hat noch gesagt, es ist besser, die Fragen zu kennen als die Antworten ?«, warf Julika ein.
»Noch besser ist es, den zu kennen, dem man die Fragen stellen kann«, sagte Van Leeuwen.
»Mir gefällt besonders der herzliche Ton, in dem Sie diese Fragen stellen«, sagte Vreeling.
»Der Commissaris steht sonntags einfach nicht gern so früh auf«, sagte Gallo. »Du etwa ?«
»Schon als Messdiener«, sagte Vreeling mit ausdrucksloser Miene. »Er war nie Messdiener«, sagte Gallo. »Ich auch nicht.«
»Warum ist das wichtig, ob er einen Plan hatte oder nicht ?«,
wollte Vreeling wissen.
»Es ist wichtig, um sich in den Täter hineinzuversetzen«, sagte Van Leeuwen.
Gallo ergänzte: »Nur wenn wir wissen, warum dieses Opfer ausgewählt wurde und wie es auf das, was ihm zugefügt wurde, reagiert haben könnte oder sollte, können wir das Vorgehen des Täters nachvollziehen. Die Persönlichkeit des Mörders offenbart sich durch die Entscheidungen, die er trifft. Quält er sein Opfer lange, oder tötet er es schnell ? Was wollte er sehen, hören oder fühlen ? Wollte er sich darauf freuen, oder ist es einfach über ihn gekommen ? Der planvoll agierende Täter verbringt meistens viel Zeit mit der Vorbereitung, packt Handschellen oder Fesseln ein und verwischt seine Spuren. So einer ist oft intelligent, redegewandt. Der Mörder ohne Plan dagegen geht bei seinen willkürlichen Überfällen ein hohes Risiko ein, das er nicht erkennt, weil er in einer Welt der Wahnvorstellungen lebt. Er neigt dazu, seine Opfer vorher bewusstlos zu schlagen und hinterher zu entstellen. Er ist leichter zu fassen.«
»Manchmal sitzt der Mörder auch einfach neben der Leiche und weint«, sagte Julika.
»Würgemale am Hals«, las der Commissaris vor. »Prellungen auf beiden Seiten des Brustkorbs. Der Kiefer ausgehebelt, der Gaumen von unten eingestoßen. Warum steht da nichts über meinen Splitter ? Kratzspuren an der Innenseite des ...«
Seine Stimme erstarb. Stumm las er weiter. In den letzten Jahrenhatte er sich oft gefragt, was in einer Stadt wie Amsterdam überhaupt noch ein Verbrechen war; alles schien erlaubt oder wenigstens geduldet. Das hier, dachte er, während er weiterlas, das wird niemand dulden, egal, wie man es
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