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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Einwegdosen, Fetzen von Pizzapappe und die Scherben zerbrochener Bierflaschen. Dampf stieg aus den Gullys auf. Die Neonröhren an den Häuserfassaden sprühten ihren unruhigen Glanz auf das nasse Pflaster. Inzwischen sahen manche Straßen im Zentrum aus wie die Barviertel von Liverpool oder Hongkong.
    Der tote Junge stand allein im schmutzigen Neonlicht. Er hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben und starrte mit blicklosen Augen vor sich hin.
    Der Wind wehte kalt vom Hafen her, aber statt nach Algen oder Salz roch er nach Bier und Erbrochenem, nach scharfen Gewürzen und heißem Bratfett. Aus den offenen Türen der Kneipen, Cafés und Coffeeshops in der Warmoesstraat trieben Schwaden von süßem Rauch. Kleine Schilder versprachen Magic Mushrooms , Herbs und Sex Stimulantien, und in jedem Club wurde eine andere Musik aufgelegt, die bei Regen voller und schwerer klang. An den Fenstern hingen Poster mit dem Porträt von Che Guevara, und im winzigen Foyer des Hotels Kabul stapelten sich Backpacks und Schlafsäcke.
    Van Leeuwen bog auf den Dam, an dessen Ende die Centraal Station aufragte. Rechter Hand dümpelten die überdachten Boote der Grachtenrundfahrten an ihren hölzernen Stegen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite reihten sich billige Hotels an schäbige Pensionen,die am Sonntagabend schon wieder die Vacancy -Schilder eingeschaltet hatten. Auf jede Pizzeria folgten ein Souvenirladen, ein Sexshop, ein Geldwechsler, eine Fritten-und-Muschel-Bude, eine Stehkneipe und wieder das nächste Geschäft für Touristenkitsch. Der Regen wurde stärker, aber nicht stark genug, um den Boulevard leer zu fegen.
    Rucksacktouristen drängelten sich vor den Fastfood-Buden. Die letzten englischen Wochenendbesucher standen in kleinen blassen Gruppen unter Clubmarkisen. Wendige Skater rollten zwischen Horden von Fahrradfahrern mit Regencapes über die Radwege. In den schmalen Seitengassen lehnten Betrunkene in dreckigen Hauseingängen, und Kinder mit leeren Augen bettelten um ein paar Cent, bis sie genug für die nächste Spritze zusammenhatten.
    Der tote Junge tauchte zwischen ihnen auf und verschwand wieder, reglos. Er schaute immer in Van Leeuwens Richtung, aber er sah ihn nicht an. Er sah überhaupt niemanden an, und niemand sah ihn. Es war gut, dass er die Mütze trug und nicht so herumlief, wie er gefunden worden war.
    Van Leeuwen hielt sein Tempo und schaute den anderen Passanten ins Gesicht, bis er wusste, was er über sie wissen musste, und das ging schnell. Besonders schnell ging es bei den Kindern. Ein Blick genügte, und er wusste, ob sie sicher waren, und wenn nicht, ob sie noch gerettet werden konnten. Manchmal sah er nur, dass das Leben sie schon verloren hatte. Deswegen war er hier: Er trieb mit dem Strom der nächtlichen Passanten, um eine Witterung aufzunehmen, die Witterung des toten Jungen auf den Wegen, die dieser gegangen war. Vielleicht war der Junge mit dem Zug nach Amsterdam gekommen. Vielleicht suchte gerade jetzt auf den Bahnsteigen Tic nach ihm oder sonst jemand, der ihn vermisste. Vielleicht wartete sein Mörder dort auf den Zug, der ihn wieder aus der Stadt bringen sollte.
    Vor einer Straßenbahnhaltestelle stand ein Feuerschlucker mit nacktem Oberkörper und fauchte Flammenzungen in den Regen. Ein Gruppe Afrikaner in Batikgewändern trommelte auf nassen Congas, Bongos und Tablas dunkle Rhythmen. Ein Saxophonistspielte für die Münzen in der Zigarrenkiste zu seinen Füßen. Jeder, der wollte, fand einen Zuschauer, einen Zuhörer. Es gab das passende Essen für jeden Hunger; jeder Durst konnte gestillt werden. Und manchmal öffnete sich eine Tür, wo es vorher keine gegeben hatte, und dahinter stand ein Erfinder, der den Durst neu erfand, den Hunger und das Bedürfnis, und alles auf eine Weise stillte, die noch nie da gewesen war.
    Auf dem Bahnhofsplatz musste der tote Junge sich gegen den Seewind stemmen. Der Platz war riesig, und der Junge ging auf den Eingang der Centraal Station zu, und plötzlich war er verschwunden. Van Leeuwen dachte, dass sein Anblick nicht so schlimm war, wenn er die Mütze trug.
    Der Geruch nach Salz und Tang war jetzt stärker als alle anderen Gerüche. Die Uhr am linken Turm des mächtigen, auf Pfählen erbauten Backsteingebäudes zeigte Mitternacht. Van Leeuwen be trat die große Bahnhofshalle. Um diese Zeit verloren sich nur wenige Reisende in dem schlecht beleuchteten Gewölbe. Die Geschäfte und Schnellimbisse waren längst geschlossen. In einigen Ecken hatten

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