Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
nachdem der Arzt zwei Knöpfe gleichzeitig gedrückt hatte. Hinter dieser Tür begann das Weiß, das den Patienten erspart blieb.
Ten Damme führte den Commissaris zu einem schlicht gehaltenen Raum mit seinem Namensschild an der Tür. »Dreitausend Euro, stimmt«, sagte er, »aber die müssen Sie ja nicht allein aufbringen. Sie haben doch bestimmt eine Versicherung, es gibt staatliche Zuschüsse, die Sie beantragen können, und wenn Ihre Fraudas Rentenalter erreicht hat, kommt noch die Rente dazu. Jeder Patient erhält ein Taschengeld, damit er so lange wie möglich an dem Leben teilnehmen kann, wie er es vielleicht in Erinnerung hat – eine Zeitung kaufen, Blumen, ein Konzert besuchen, ein Glas Sekt trinken. Setzen Sie sich doch, Mijnheer van Leeuwen.«
»Danke, ich stehe lieber«, sagte Van Leeuwen.
»Ich auch«, sagte Ten Damme und nahm eine bereits gestopfte Pfeife vom Schreibtisch, der neben zwei Stühlen und einem Aktenschrank das einzige Mobiliar bildete. Er sengte den Tabak im Pfeifenkopf mit mehreren Flammenstößen aus einem altmodischen Benzinfeuerzeug an, wobei er so viel Rauch einsaugte und wieder ausstieß, dass der Sommer vor dem Fenster auf einmal wie eine Nebellandschaft aussah.
»Ich weiß, wie schwer es für Sie sein muss, hier zu sein«, sagte er. »Sie sehen keine andere Möglichkeit mehr, und trotzdem kommen Sie sich vor, als übten Sie Verrat an dem Versprechen, das Sie Ihrer Frau einmal gegeben haben.«
Van Leeuwen sagte nichts.
Ten Damme respektierte das Schweigen. »Es ist kein Verrat«, sagte er dann. »Sie lieben Ihre Frau, aber sie hat Sie vergessen. Sie ist in einem anderen Land. Sie erlebt eine Zeit, lange bevor Sie sich kennen gelernt haben: die Zeit der Kindheit, in der man umgeben ist vom Zauber des Anfangs, ohne Kummer, ohne Schmerz. Mit dem erdrückenden Gefühl, dass es kein Zurück in die Welt der Gesunden gibt, dass dieses Leiden durch immer tiefere Verwirrung nirgendwohin führt, außer in den Tod, mit diesem Gefühl sind Sie allein. Ich bin sicher, ich sage Ihnen nichts, was Sie nicht schon von anderen Ärzten gehört haben oder aus eigener Erfahrung wissen. Das Gepäck, das Ihre Frau auf ihrer Reise in die Dunkelheit nach und nach ablegt, bürden Sie sich auf, ob Sie wollen oder nicht, und diese Reise kann noch viele Jahre dauern. Jahre, in denen diese Bürde immer schwerer wird, in denen Sie vielleicht Schritt zu halten versuchen, aber irgendwann wird es über Ihre Kräfte gehen. Am Ende kann es Ihnen passieren, dass Sie, gesund, wie Sie aussehen, vor Ihrer schwer kranken Frau sterben, vor lauter Erschöpfung.«
Van Leeuwen dachte, dass er nichts dagegen hatte, vor Simone zu sterben.
»Natürlich«, sagte Ten Damme, »können Sie sie auch in eine Tagesklinik geben. Sie bringen Ihre Frau morgens hin und holen sie abends wieder ab, wie ein Kind im Kindergarten, wo sie mit anderen Patienten singt und tanzt und isst. Viele Verwandte von Alzheimer-Patienten fahren gut mit dieser Methode.«
»Ich weiß nie, wie lange meine Arbeit mich beansprucht«, sagte Van Leeuwen. »Ich komme zu sehr unregelmäßigen Zeiten nach Hause.« Er merkte, dass er eine Entscheidung getroffen hatte, ohne es eigentlich zu wollen; er wollte wieder arbeiten, nicht heimlich, ganz offiziell. »Wann können Sie meine Frau aufnehmen ?«
»Es gibt eine Warteliste«, sagte Doktor Ten Damme. »Ich kann mit dem Direktorium sprechen, ihnen den Fall vortragen. Sie sind bekannt, Sie tun eine nützliche Arbeit, das wird ins Gewicht fallen. Vor dem Jahreswechsel aber auf keinen Fall. Bis dahin können Sie es sich immer noch überlegen.«
Van Leeuwen nickte und wandte sich zur Tür. »Auf Wiedersehen, Doktor. Und danke.«
Ten Damme verabschiedete ihn mit einer Rauchwolke. »Glauben Sie mir, Sie tun das Richtige.«
»Es ist sehr weit weg«, sagte Van Leeuwen.
30
Als er am frühen Abend nach Hause kam, war die Wohnung leer. Er rief: »Ich bin wieder da !«, aber er bekam keine Antwort. Er ging durch alle Räume, und alle waren leer. Keine Lampe brannte. Das letzte Licht des Himmels spiegelte sich in einer großen Wasserlache unter dem Wohnzimmerfenster. Sämtliche Blumentöpfe standen auf dem Boden in der Wasserlache, und die Blumen lagen herausgerissen in der Erde neben den Töpfen.
Beunruhigt griff Van Leeuwen nach seinem Handy. Niemand hatte ihn angerufen, warum hat niemand angerufen ? Er stellte fest,dass der Akku leer war. Er ging zum Telefon in der Diele und entdeckte neben dem Apparat einen
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