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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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erkennen, wer was war.
    Die Wände zwischen den Fenstern waren farbig gestaltet, so lebhaft wie die Farben der Wiesen und des Gartens, und es machte keinen großen Unterschied, ob man auf den breiten Wegen draußen spazieren ging oder auf den Gängen des Heims.
    Ein schlanker blonder Mann mit einer Schildpattbrille kam Van Leeuwen auf einem der Gänge entgegen. Er trug Hush Puppies, dunkelbraune Kordhosen und eine Strickjacke mit großem Schottenkaro über einem hellblauen Leinenhemd. Er ging schnell und winkte im Gehen. » Goedendag , Mijnheer van Leeuwen !«
    Van Leeuwen nickte. »Doktor Ten Damme ?«
    »Soll ich Sie ein bisschen herumführen ?«, fragte Ten Damme.
    »Das Dorf gehört zur Therapie. Es ist unser Theater, unsere Kulissenwelt, die Bühne, auf der wir alle hier, Ärzte, Pfleger und Patienten, miteinander spielen. Kennen Sie Shakespeares Wie es euch gefällt ?« Er ging neben Van Leeuwen her, deutete mit sparsamen Gesten die Richtung an. » Die ganze Welt ist Bühne nur – der letzte Akt, mit dem die seltsam wechselnde Geschichte schließt, ist zweite Kindheit, gänzliches Vergessen, ohn’ Augen, ohne Zahn, Geschmack und alles .«
    »Der Rest ist Schweigen«, sagte Van Leeuwen.
    »Nur dass wir keine Schauspieler sind«, erklärte Ten Damme. »Die Kleider, die Sie in dem Geschäft hier kaufen können, sind echt, die Zeitungen sind aktuell, und der Kakao ist frisch. Der Sommer draußen vor den Fenstern ist nah, man kann ihn sehen und riechen, die Blumen, das Gras. Im Herbst werden die Blätter braun und fallen ab, und der Schnee im Winter ist kalt und schmilzt in der Hand. Wie alt ist Ihre Frau, Mijnheer ?«
    »Sie wird in vier Monaten sechsundfünfzig«, antwortete Van Leeuwen.
    »Das ist jung«, sagte der Arzt. »Bestimmt läuft sie viel herum. Die meisten Alzheimer-Kranken müssen immerzu laufen. Ihr Zustand macht ihnen Angst, und wie Kinder versuchen sie, vor dem wegzulaufen, was ihnen Angst macht. Die Gänge und Wege hier lassen genügend Platz, sodass niemand in Panik gerät, und wir binden niemanden an und stellen auch niemanden ruhig. Jeder Patient wird täglich so oft gewaschen wie nötig, und wir achten darauf, dass er ausreichend isst und vor allem trinkt.«
    Sie gingen einen Flur mit mehreren verschiedenfarbigen Türen entlang, und Ten Damme klingelte an einem in weichem Ocker gestrichenen Eingang, der mit den beiden gardinengeschmückten Fenstern rechts und links aussah, als gehörte er zu einem richtigen Haus. »Mal sehen, ob jemand da ist«, sagte er. Die Tür hatte die Nummer 12. »Unsere Wohneinheiten liegen außerhalb des Verwaltungstrakts, damit unsere Patienten gar nicht erst das Gefühl bekommen, in einer Klinik zu sein. Sie können auch Haustiere mitbringen, wenn sie wollen. Jede Wohneinheit hat eine eigene kleine Küche, allerdings gibt es nur Vierbettzimmer.«
    In den Fenstern neben den Türen mit den Nummern 11 und 13 zeigten sich die Konturen von Köpfen, blasse Gesichter. Einige der Frauen und Männer, die auf dem Flur unterwegs waren, blieben stehen, ohne etwas zu sagen. Sie trugen weder Morgenrock noch Bademantel, und nur der Simone-Look verriet ihr Leiden.
    Die Tür blieb geschlossen. Der Arzt unternahm keinen Versuch, sie mit einem Generalschlüssel zu öffnen. »Er schläft vielleicht. Ich zeige Ihnen ein anderes Zimmer.«
    »Es reicht, wenn Sie mir ein Foto zeigen«, sagte Van Leeuwen.
    Ten Damme ging weiter. »Die Pfleger wohnen außerhalb des Heims«, fuhr er fort. »Sie kommen morgens und gehen abends wieder nach Hause, aber sie bleiben immer die Bezugspersonen der Kranken, derselbe Arzt, dieselbe Schwester, dieselben Therapeuten, von der Einlieferung bis zum endgültigen Abschied. Sie kennen sich, die Betreuer wissen aus langer Beobachtung, wen sie vor sich haben, registrieren Veränderungen, wissen, wann Fröhlichkeit hilfreich ist und wann sie jemandem seine Trauer lassen müssen.«
    »Das ist gut«, sagte Van Leeuwen. »Wir waren immer gern zusammen traurig.«
    »Im Übrigen können Sie Ihre Frau jederzeit besuchen, Mijnheer«, sagte Ten Damme, »falls Sie sich entschließen, sie zu uns zu bringen –«
    Einen Moment lang verlor Van Leeuwen beim Zuhören den Faden. Seine Brust wurde bleischwer. Er sah in eine Zukunft, die diesen Namen nicht verdiente, und schnappte nach Luft.
    »Der Aufenthalt hier ist zwar nicht billig –«
    »Dreitausend im Monat, habe ich gelesen«, sagte Van Leeuwen und folgte Ten Damme durch eine Tür, die erst geöffnet werden konnte,

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