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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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Obdachlose in Schlafsäcken ihr Nachtlager aufgeschlagen. Van Leeuwen durchquerte die Halle und nahm die erste Rolltreppe nach oben zu den Gleisen. Der Regen hatte seinen Trenchcoat aufgeweicht, und ihm war so kalt, dass er zitterte. Windböen fegten über die verödeten Bahnsteige. Auch das Grand Café 1er Klas war schon dunkel. Im trüben Licht der Lampen unter der Dachkuppel stand eine junge blonde Frau in einer roten Kunstlederjacke allein auf dem Bahnsteig, auf dem noch ein verspäteter Zug einfahren sollte.
    Langsam ging Van Leeuwen auf die Frau zu, und von nahem sah er, dass die Frau noch ein Mädchen war. Das Mädchen zitterte genauso wie er. Außer der Kunstlederjacke trug sie einen kurzen schwarzen Rock und kniehohe Stiefel. Die Hände hatte sie in die Jackentaschen gesteckt, die Lippen waren blass vor Kälte. Das Mädchen hielt die Ellbogen fest gegen den Körper gepresst, und die Beine waren mit einer Gänsehaut überzogen. Auch ihr Nacken zitterte unter dem strähnigen blonden Haar. Tic, dachte Van Leeuwen. Das Mädchen sah ihn nicht an, die Augen waren auf die Gleisegerichtet, dorthin, wo der Scheinwerfer des Zugs aus der Nacht auftauchen musste.
    »Hallo«, sagte er. »Wartest du auf jemanden ?«
    Das Mädchen drehte sich zu ihm um. Die Zähne hinter den blass gefrorenen Lippen bearbeiteten einen Kaugummi. Die Augen hatten das helle Blau von Gasflammen. Ein Blechring schmückte die rechte Braue, und unter dem linken Ohr verlief ein verschorfter Kratzer.
    »Wie heißt du ?«, fragte Van Leeuwen.
    Das Mädchen sagte nichts. Sie hörte nicht auf zu zittern. Der Kaugummi erschien kurz zwischen ihren Lippen, und jetzt sah Van Leeuwen, dass das blonde Haar verschnitten war wie schlecht gemähtes Gras.
    »Wie spät ist es ?«, fragte das Mädchen. Ihre Stimme war heiser und brüchig.
    »Es lohnt sich nicht, auf den Zug zu warten«, sagte Van Leeuwen. Das Mädchen schwieg und schaute wieder auf die Gleise. Sie schwankte ein wenig, fing sich aber wieder.
    »Weißt du, dass du auf 8687 Pfählen stehst ?«, fragte Van Leeuwen. Das Mädchen versuchte ein Lächeln – ein verführerisches Lächeln, das misslang. »Und worauf stehst du ?«
    »Mozzarella und Tomaten«, sagte Van Leeuwen.
    Eine blecherne Lautsprecheranlage verkündete die Einfahrt des Eurocity aus Madrid. Das Mädchen warf Van Leeuwen einen unruhigen Blick zu. »Willst du jetzt oder nicht ?«
    »Nicht«, sagte Van Leeuwen.
    »Dann geh weg.«
    Weiß und nass tauchte der Zug aus der Nacht auf und hielt. Die hydraulischen Türen schoben sich auf, und die Reisenden stiegen aus, fast alles Touristen und ein paar Geschäftsreisende. Das Mädchen sah nur die älteren an und nur die Männer; ihr Blick flog von einem zum anderen und taxierte sie und war gleichzeitig hilflos und hoffnungsvoll, aber überhaupt nicht einladend. Einige der Geschäftsleute gingen langsamer. Dann sahen sie, wie das Mädchen zitterte, und gingen wieder schneller, ohne sie anzusprechen. Diejungen unter den Touristen wirkten etwas beklommen und lachten erst wieder, wenn sie ein paar Schritte entfernt waren.
    Van Leeuwen konnte sehen, dass das Mädchen von sich aus nicht den Mut aufbrachte, einen der Männer anzusprechen. Er konnte auch sehen, wie gern sie gewesen wäre wie die anderen, eine von den aufgeregten jungen Reisenden. Als der Bahnsteig sich geleert hatte, blickte sie auf ihre Stiefelspitzen; die linke zeichnete eine un sichtbare Figur auf den Beton. Er ging wieder zu dem Mädchen und sagte: »Folgendermaßen sieht’s aus: Du hast kein Geld. Du hast keinen Platz zum Schlafen. Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen –«
    »Ich habe keinen Hunger.«
    »Du denkst nur, du hättest keinen Hunger. Du musst was essen.«
    Das Mädchen warf ein kurzes Lachen weg. » Du bleibst so lange hier sitzen, bis der Teller leer ist, so in der Art ?« Sie blickte ihn wieder an. »Erinnere ich dich an deine Tochter ?«
    Van Leeuwen zeigte dem Mädchen seinen Ausweis. Das Licht in den hellen Augen schien sich zusammenzuziehen und langsam zu erlöschen.
    »Ich hab hier nur auf meinen Freund gewartet«, sagte das Mädchen.
    »Wie heißt du ?«
    »Für jeden anders.«
    »Gut.« Er griff nach einem der zitternden Arme und zog das Mädchen mit sich. »Komm mit, Tic, jetzt wird gegessen, und dann geht’s ab ins Bett.«
    »Tic ? Wieso Tic ?«
    »Wie alt bist du ?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Spiel hier nicht die dumme Straßengöre.«
    »Siebzehn.«
    »Fünfzehn.«
    »Von mir aus. Und – was hast

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