Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
Vom Netzwerk:
Blut gefühlt hatte, wann er zum letzten Mal eine Frau begehrt hatte. Wenn er jetzt eine nackte Frau sah, war es, weil er sie waschen und danach abtrocknen und ins Bett bringen musste. Er saß auf dem Stuhl, der etwas zu klein für ihn war, und wusste nicht, wohin mit seinem Zorn. Er wusste nicht einmal, dass er diesen ganzen Zorn in sich getragen hatte oder woher er kam.

 6 
    Später sagte sich Van Leeuwen oft: Der Schlüssel lag vor dir, du hättest ihn nur aufheben müssen. Du warst der Tür so nah, und wenn du den Schlüssel gesehen und in das Schloss gesteckt und sie aufgesperrt hättest, wäre vielleicht alles zu einem besseren Ende gekommen – für dich, für das nächste Opfer und sogar für den Mörder. Aber vielleicht auch nicht; vielleicht hätte das Mädchen in dem Hotel ihm damals noch nichts gesagt.
    Wie jedes Mal, bevor der Commissaris sein Haus an der Egelantiersgracht betrat, blieb er einen Moment lang auf der Straße stehen, schaute an der Patrizierfassade hinauf zu den jetzt schwacherleuchteten Fenstern unter dem spitzen Giebel und nahm seinen Mut zusammen. Geh nach Hause, dachte er, kehr heim. Steig die engen, steilen Treppen hinauf zum vierten Stock und tritt über die Schwelle deiner Wohnung. Das ist alles, mehr musst du nicht tun.
    Der Regen hatte aufgehört, aber von den Blättern der Ulmen tröpfelte es weiter. Das Licht der Straßenlaternen glänzte auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Das Wasser im Kanal leckte mit leisem Schmatzen an den Ufermauern. Die Luft, die von der Gracht aufstieg, war kalt und roch nach Moder. Van Leeuwen seufzte. Manchmal erforderte es mehr Mut, nach Hause zu gehen, als eine Festung zu erstürmen, dachte er.
    Simone schlief, gottlob, und Ellen saß auf der Couch im Wohnzimmer und tat, als läse sie schon seit Stunden die Schlagzeilen vom Handelsblad . Sie trug ein schwarzes Kleid aus einem Material, das im Licht der Stehlampe neben der Couch matt schimmerte. Sie las weiter, damit er merkte, dass sie gewartet hatte, erst dann blickte sie auf. Ihre Augen waren grün, und mit dem hellen Teint und dem rostroten Haar sah sie aus wie eine Bilderbuch-Irin. Van Leeuwen hatte Irland immer gemocht.
    »Sie können jetzt gehen«, sagte er.
    Sie legte die Zeitung neben sich, stand auf und strich das Kleid über den Hüften glatt. »Ich habe Ihnen die Telefonnummer von einem ambulanten Pflegedienst aufgeschrieben«, sagte sie. »Dort können Sie Ihre Frau morgens hinbringen und abends abholen. Der Zettel liegt neben dem Telefon.«
    »Wollen Sie schon wieder hinschmeißen ?«, fragte er.
    »Es geht einfach nicht, dass Sie kommen, wann Sie wollen, und denken, hier ist alles in Ordnung, während Sie weg sind.«
    »Aber dafür sind Sie doch da«, sagte er.
    Ellen ging zur Tür, ohne ihre Lesebrille abzunehmen. Daran merkte er, wie zornig sie war. »Es ist halb zwei«, sagte sie. »Sie wollten um acht da sein.«
    »Es tut mir leid«, sagte er. »Kann ich Sie mit einer Flasche Wein versöhnen ? Ich hole schnell eine Tragetüte –«
    Sie griff nach ihrem Trenchcoat, der in der Diele am Kleiderhakenhing, schüttelte ungläubig den Kopf und öffnete die Wohnungstür. Dann blieb sie kurz stehen, den Mantel in der Hand, und noch immer hatte sie die Brille nicht abgenommen. »Eines Tages vielleicht«, sagte sie, »wenn meine Lust, Sie umzubringen, weniger heftig ist.«
    »Dass dieser Tag jemals kommt, ist unwahrscheinlich«, sagte Van Leeuwen.
    »Was wäre das Leben ohne Hoffnung«, sagte nun auch Ellen und zog die Tür ins Schloss, bevor er noch etwas erwidern konnte. Er legte seinen nassen Mantel ab. Dann ging er in die Küche und entkorkte die letzte Flasche Montepulciano. Er schenkte den Wein in ein Wasserglas und trank den ersten Schluck im Stehen. Ihr und eure Hoffnung, dachte er, was habt ihr bloß alle ? Er hatte aufgehört zu hoffen, und es ging ihm gut damit, danke.
    »Also gibt es keine Hoffnung ?«, hatte er gefragt, nachdem der behandelnde Professor mit der engültigen Diagnose vom Berg der Verkündigung zu ihm herabgestiegen war, um ihm zu erklären, wie die Krankheit Simone unaufhaltsam immer weiter von ihm entfernen würde.
    »Nein«, hatte der Professor geantwortet, »keine«, und so war es seitdem.
    Natürlich hatte er die Hoffnung nicht sofort verloren. Wann immer seine Arbeit es gestattete, hatte er Simone zu ihren Untersuchungen begleitet, war mit ihr von Arzt zu Arzt gegangen und hatte lange Stunden in der Cafeteria des Universitätskrankenhauses gewartet. Aber jedes

Weitere Kostenlose Bücher