Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
du willst wirklich nicht mit mir –«
»Nein. Ich habe eine Frau.«
»Das haben alle.«
»Nicht so eine wie ich«, sagte Van Leeuwen und setzte sich auf den Stuhl neben der Zimmertür, ohne den Trenchcoat aufzuknöpfen. Regen trommelte gegen die schwarze Luke in der Dachschräge.
Das Mädchen ließ sich auf das Bett fallen. Als sie ihre Stiefel auszog, kamen fadenscheinige rosafarbene Söckchen zum Vorschein. Die Beine waren dünn wie die eines Kindes und wachsblass. Die Achseln rochen schal, nach trockenem Schweiß. Unter der Kunstlederjacke trug sie nur ein Sweatshirt mit der Aufschrift Pink. Ihre Brüste waren klein, wie flache Birnen. Das Mädchen legte auch den Rock ab, und da schaute Van Leeuwen weg und sah erst wieder hin, als sie die Decke bis zum Hals hochgezogen hatte.
Das Mädchen warf ihm einen rätselhaften Blick zu, dabei knabberte sie an einem trockenen Hautfetzen auf der Unterlippe. Dann setzte sie sich auf, angelte ein Päckchen American Spirit und ein Plastikfeuerzeug aus ihrer Jacke und zündete sich eine Zigarette an, wobei sie sorgsam darauf achtete, dass die Decke nicht herunterrutschte. Das Haar hing ihr ins Gesicht, und der Schein der Feuerzeugflamme huschte über die blonden Strähnen. Das Mädchen inhalierte den Rauch tief und schnell und atmete ihn hastig wieder aus. Mit der freien Hand schob sie sich eine Haarsträhne hinter das linke Ohr, bevor sie Van Leeuwen von unten herauf ansah. »Willst du nicht doch ?«
»Ich will nur, dass du dich mal in einem warmen Zimmer ausschläfst«,sagte er, »und morgen früh einen Kaffee trinkst, ohne dich wegen der Nacht schämen zu müssen.«
»Was bist du«, fragte das Mädchen, »der gute Mensch von Amsterdam?«
»Ja«, sagte Van Leeuwen.
»Ich heiße Esther«, sagte das Mädchen unvermittelt.
»Esther ist ein schöner Name«, sagte Van Leeuwen.
»Du findest, er passt nicht zu mir, oder ?« Esthers Augen glänzten im Schein der Nachttischlampe. »Du findest, dass ich Mist baue mit meinem Leben, oder ?«
Van Leeuwen schwieg.
»Wen kümmert das schon ?«, sagte Esther. Sie drückte die Zigarette in dem kleinen Blechaschenbecher auf dem Nachttisch aus und ließ sich zurücksinken. Einen Moment lang lag sie mit offenen Augen da und schaute die Dachluke an. Dann schob sie einen Arm unter den Nacken und schloss die Augen.
» Mich kümmert es«, sagte Van Leeuwen, »und wenn ich dich noch einmal auf der Straße sehe, wirst du dir wünschen, dass du mir nie begegnet wärst.«
Esther sagte lange nichts, sodass er dachte, sie wäre eingeschlafen. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Auf einmal sagte sie mit leiser Stimme: »Hast du dir die Erde schon mal von oben vorgestellt, wie sie aussieht, wenn man aus dem Weltall auf sie runterschaut ? Diese Kugel, auf der man nichts sieht als Blau, wo das Wasser ist, und Grau, das ist das Land, aber man sieht keine Städte oder so, nicht mal Länder – du weißt schon, wie bei diesen Fotos, die die Astronauten machen ... Und dabei ist sie gar nicht winzig, sie ist riesengroß, und darauf wimmelt es von Menschen, stell dir die Millionen oder Milliarden und Abermilliarden Menschen vor; aber aus dem All, von da, wo die Fotos gemacht werden, sieht man die nicht, keinen einzigen, sie sind kleiner als die kleinste Ameise. Wenn du dir das vorstellst, wie kannst du dann glauben, dass es irgendetwas ausmacht, was ich mit meinem Leben anfange ? Was irgendjemand mit seinem Leben anstellt !? Was ich denke, wovor ich Angst habe, das ist doch völlig egal von da oben aus betrachtet, total lächerlich !Und noch was – sie ist so schön, wenn man sie so sieht, so blau und grau und rund, so vollkommen, und wenn du hier unten bist, ist alles Scheiße, alles nur Scheiße.«
»Schlaf jetzt«, sagte Van Leeuwen.
Etwas später schlief sie tatsächlich. Er betrachtete ihr erschöpftes, selbst im Schlaf nicht entspanntes Gesicht und dachte, dass es wie abgewandt wirkte, wie die Miene von jemandem, der für immer weggegangen war, ohne sich noch einmal umzusehen. Dann dachte er an Goya und daran, dass ihre Haltung ein bisschen an die nackte Maja erinnerte, aber nicht wie auf dem Gemälde, nicht so fleischlich. Eher glich sie einer sparsamen, hastig hingeworfenen Kohleskizze, die erst viel später vom Pinsel mit großzügigen Rundungen und lockendem Mienenspiel angereichert wurde – unfertig, ein Entwurf, der vielleicht nie vollendet werden sollte.
Van Leeuwen fragte sich, wann er sich das letzte Mal als Mann aus Fleisch und
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