Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
Vom Netzwerk:
Mal, wenn er hineingerufen worden war zu dem neuen Arzt, dem nächsten Spezialisten oder wenn er gesehen hatte, wie sie zurückkam, war der Geschmack auf seiner Zunge bitterer geworden, war wieder etwas von dieser Hoffnung verschwunden.
    »Es ist, als ginge sie sich selbst verloren«, hatte der Professor gesagt. »Sie spürt, wie sie leer wird. Sie versucht, es aufzuhalten. Aber ihr Leben rinnt ihr zwischen den Fingern hindurch, und während sie es aufzuhalten versucht, vergisst sie, was sie tut und warum. Das macht sie wütend und traurig und jagt ihr schreckliche Angst ein. Aber bald wird es sie nicht mehr wütend oder traurig machen,weil sie auch ihre Gefühle vergisst, und wer Sie sind, weiß sie dann
schon lange nicht mehr. Dann hat sie auch keine Angst mehr. Es
gibt für sie nur noch den winzigen weißen Punkt der Gegenwart.«
    »Aber sie ist doch erst fünfzig«, hatte Van Leeuwen gesagt. »Sie ist doch noch nicht so alt !«
    Keine Hoffnung. Aber natürlich gab es noch das Glück, die Möglichkeit einer glücklichen Fügung.
    Am Anfang, bevor sie zu all den Ärzten gegangen waren, hatte Van Leeuwen die Veränderungen, die mit seiner Frau vorgegangen waren, gar nicht bemerkt. Sie vergaß einen Termin, verwechselte einen Tag oder suchte nach einem Wort – ging ihm genauso . Sie musste einen Artikel mehrmals lesen, um sich daran zu erinnern, was drin stand – weiß Gott, das kannte er . Manchmal konnte sie sich nicht mehr an den Namen eines Freundes erinnern, aber wer wollte sich die schon alle merken ? Sie kaufte Tomaten ein, ohne sie zu essen, und am nächsten Tag noch mehr Tomaten, die sie zu den alten legte. Ich verkalke allmählich, murmelte sie; aber er war älter.
    Sind wir denn wirklich schon alt, hatte er sich verwundert gefragt. Wann denn – wann sind wir alt geworden ?
    Allerdings hatte er keine Schwierigkeiten, die Wagenschlüssel zu finden, die seit jeher bei den Ersatzschlüsseln für Wohnung, Keller und Briefkasten und dem lästigen Münzgeld in der Kristallschale auf der Dielenkommode lagen, wenn sie nicht gerade im Zündschloss des Alfa steckten. In der Jackentasche , hatte er Simone zugerufen, als er sie suchen sah, die gelbe Wildlederjacke , und da waren sie auch gewesen, beim ersten Mal. Er wusste noch, dass es beim ersten Mal die gelbe Wildlederjacke gewesen war.
    Er benötigte auch keine unleserlich hingekritzelten Gedächtnisstützen auf unzähligen Zetteln, die bald den Tisch in ihrem Arbeitszimmer bedeckten, im Alfa auf den Bodenmatten lagen oder zusammengeknüllt in ihren Taschen steckten. Zettel, auf denen er mühsam Unverständliches zu entziffern begann, Auto steht links vom Haus an Gracht, braun, nach rechts fahren bis Brücke, dann links hinter Brücke oder Connie mit Namen begrüßen (Sekretärin) .
    Eines Tages waren keine neuen Zettel mehr hinzugekommen.
    Eines Tages – nein, genauer: eines Abends – war Simone in ihrem Arbeitszimmer verschwunden, aber Van Leeuwen hatte die elektrische Schreibmaschine, die sonst sofort zu rattern begann, nicht gehört, zwei Stunden lang, bis er nachschauen ging. Seine Frau saß an ihrer mit Zetteln übersäten Arbeitsplatte, im Licht der Schreibtischlampe, und sah hilflos zu ihm auf. »Ich weiß nicht, was ich tue«, sagte sie. Auf ihren Wangen glänzten Tränenspuren.
    »Niemand, der für den Telegraaf schreibt, weiß das«, brummte er, aber jetzt konnte er nicht länger so tun, als wäre alles in Ordnung. Das konnte er auch nicht mehr, als sie anfing, länger und länger zu schlafen, und gleichzeitig aufhörte zu essen. Sie vergaß die Mahlzeiten, und sie schien von sich aus keinen Durst mehr zu verspüren, und als wäre all dies Vergessen überaus anstrengend, entkam sie ihm durch noch mehr Schlaf. Sie versäumte Termine. Sie begann plötzlich zu weinen und bekam genauso plötzlich Wutanfälle, die im nächsten Moment schon wieder vergessen waren.
    »Halt mich fest !«, flehte sie eines Abends, und er ging zu ihr und hielt sie fest. »Ich falle«, sagte sie. »Lass mich nicht fallen. Vergiss mich nicht. Lass mich nicht allein.« Er wusste nicht, was er sagen sollte, aber er hielt sie fest. Ihm schien, als wäre sie etwas wärmer als sonst, aber auch etwas fester; als wäre ihr Körper weniger weich. Sie spannte alle Muskeln an, wie eine Katze in Panik, und er hatte ein seltsames Gefühl: In seinen Armen wurde sie zu dem weißen Punkt, von dem der Arzt gesprochen hatte. »Ich halte dich ganz fest«, sagte er.
    Sie sah zu ihm auf, stellte

Weitere Kostenlose Bücher