Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
sich dann unerwartet auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Lippen. Auf diese Weise hatte sie ihn schon lange nicht mehr geküsst: Es war ein leidenschaftlicher Kuss voller Verlangen und voll von einer Lust, die er längst vergessen geglaubt hatte. Später in der Nacht kehrten diese Lust und das Verlangen zurück. Sie brannten in Simones Körper und steckten Van Leeuwen an. Sie konnten nicht aufhören, sich zu lieben, und selbst als sie schon völlig leer und erschöpft waren, kehrten immer wieder Umarmungen und Küsse zu ihnen zurück, wie auslaufende Wellen, die noch einmal über sie hinwegspülten.
»Bruno«, flüsterte sie, »Bruno.« Er lag neben ihr mit zerrissenem Herzen, und er wusste, dass sie mit ihm eben auch ein letztes Mal die Vergangenheit umarmt und losgelassen hatte, das Leben, wie es einmal für sie gewesen war, ihr Leben und ihn.
Noch immer nackt und zitternd setzte sie sich auf. Ihre Haut war feucht von Schweiß. Sie zog die Beine an, schlang die Arme um die Schenkel und ließ ihre Stirn auf die Knie sinken. Das Haar, das sie damals noch lang getragen hatte, fiel ihr über die Arme bis hinunter zu den lackierten Zehennägeln. »Auf Wiedersehen, Bruno, Liebster«, sagte sie zu ihrem Schoß.
»Mein Herz«, sagte er.
»Ich bin bald nicht mehr da«, sagte sie.
Danach redete sie immer seltener und benutzte dabei immer weniger Wörter, und was sie sagte, hatte fast keinen Zusammenhang mehr. Nein, er konnte nicht mehr so tun, als wäre alles in Ordnung.
Schon gar nicht konnte er so tun, als wäre alles in Ordnung, seit sie angefangen hatte, sich zu verlaufen. Sie verließ das Haus und vergaß, wohin sie wollte, und fand nicht mehr zurück, und dann klingelte das Telefon in seinem Büro, und am anderen Ende der Leitung war ein Streifenpolizist oder ein Zeuge Jehovas oder ein Taxifahrer oder sonst jemand, der sie herumirren gesehen und seine Nummer auf einem der Zettel in ihrer Tasche gefunden hatte. Manchmal fanden sie auch andere Zettel mit den Nummern eines ehemaligen Kollegen in der Redaktion oder einer der allmählich weniger werdenden Freundinnen. Aber am Ende riefen doch alle ihn an, und er fuhr los und holte sie ab. Das war, bevor er Ellen engagiert hatte, die seine Frau betreuen sollte. Bevor er das Armband mit der Plakette anfertigen ließ, wie für ein frei laufendes Haustier.
Und jetzt stand er allein in der halbdunklen Küche, um zwei Uhr morgens, und trank nur deswegen im Stehen, weil er sogar zu müde war, sich einen Stuhl unter dem Tisch hervorzuziehen. Er hielt schon das zweite Glas in der Hand, ohne darauf zu achten, dass er drauf und dran war, sich zu betrinken. Wie lange noch ?, dachte er.
Vor ein paar Wochen war er abends nach Hause gekommen – zu der Zeit, als Ellen es manchmal nicht mehr ausgehalten hatte und Simone einfach ins Bett steckte, bevor sie wegging, ohne auf ihn zu warten –, und da saß sie in der Küche: Seine Frau saß im Morgenrock in der Küche an diesem Tisch hier, vor sich einen Teller mit nichts als wildem Reis, halb gar gekocht. Mit der Gabel sortierte sie die dunklen Körner aus, die schon einen kleinen Haufen neben dem Teller bildeten. Der Reis war längst kalt. Und während sie ein schwarzes Korn zu den anderen legte, lächelte Simone ihn an, wie nur sie lächeln konnte. »Kann nicht essen«, sagte sie.
Und erst eine Woche war es her, dass er sie wie jeden Sonntag gewaschen und angezogen hatte, um mit ihr spazieren zu gehen an einem frischen Apriltag, der nach Mantel, Mütze und Schnürschuhen verlangte. Nur dass sie keine Schnürschuhe mochte und sich mit sanftem, aber unerbittlichem Starrsinn weigerte, sie anzuziehen. Schließlich gab er auf. Zufrieden verschwand sie im Schlafzimmer, um sich andere Schuhe zu holen.
Schon früher, als sie noch gesund gewesen war, konnte es dauern, bis sie die richtigen Schuhe ausgewählt hatte. Doch an diesem Sonntag vor einer Woche kam sie eine halbe Stunde lang nicht wieder, und als ihm zu guter Letzt der Geduldsfaden gerissen und er nachsehen gegangen war, hatte er sie auf dem Teppich sitzend gefunden, inmitten dutzender Schuhe, seiner und ihrer. Der ganze Boden war mit Schuhen bedeckt, und alle, die Schnürsenkel hatten, waren miteinander verknotet.
Ihre Füße in den bunten Socken sahen so schutzlos aus.
Ihm war, als sackte sein Herz ein kleines Stück. Dein Gesicht, dachte er. Erst in diesem Moment hatte er bemerkt, welche Veränderung ihr Gesicht zeigte. Es war in unsäglicher Traurigkeit erstarrt. Im
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