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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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einmal zu steigern, und endlich hatte er ihn, er hatte ihn beinahe, zumindest ein Bein, während der Junge schon fast oben auf dem Zaun war, dem scheppernden Maschendrahtzaun, durch den blendend die Sonne schien, und diesmal ließ der Commissaris nicht los, diesmal hielt er den Jungen fest, bis Deniz ihm mit dem anderen Fuß hart ins Gesicht trat, und nach dem dritten Tritt sagte sich Van Leeuwen, was soll’s, das ist es nicht wert, und ließ doch los.
    Hinter dem Zaun, auf der anderen Seite, lachte der Junge einmal laut auf und stieß den ausgestreckten Mittelfinger in die Luft, ehe er langsam über den Nachbarhof davonschlenderte und im Schatten einer verkrüppelten Akazie verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen.

 11 
    Der Commissaris wusste, dass es keinen Sinn hatte, gegen die Strömung zu schwimmen. Er musste dorthin gehen, wohin die Ermittlung ihn führte – den Drachen hinter sich herziehen und den Aufwind suchen, der ihn in die Luft trieb. Er hatte es zuerst mit dem Jungen versucht, weil er nicht in die Universitätsklinik wollte, aber ihm war klar, dass er nicht darum herumkam, genauso wenig, wie Brigadier Tambur darum herumkam, sich die Videos anzuschauen.
    Julika saß in einem fensterlosen Verhörraum vor dem Fernseher und schaute sich Horrorvideos an, auf der Suche nach einem Mord, einem Vorbild für das Verbrechen im Vondelpark. Obwohl sie die Filme im Schnelldurchlauf abspielte, wirkten ihre Augen krank, angesteckt von der flackernden Fäulnis auf dem Bildschirm.
    Van Leeuwen fand, dass sie sehr jung aussah. Aber je älter man wurde, desto jünger sahen alle anderen aus, so war das nun mal. Er sagte allen, wo er zu finden war, falls die Fahndung nach Deniz Aylan – fünfzehn Jahre alt, holländischer Staatsbürger mit einem türkischen Elternteil – zu einem Ergebnis führte. Dann nahm er den Fahrstuhl ins Kellergeschoss, wo die Asservaten aufbewahrt wurden.
    Er ging einen spärlich beleuchteten Korridor entlang, begleitet vom zuckenden Licht anämischer Neonröhren, bis er an eine Stahltür gelangte. Hinter einem kleinen Glasfenster saß ein Agent, der ihn kannte und auf den Knopf für den Türöffner drückte, ohne dass Van Leeuwen etwas erklären musste.
    Der Commissaris wusste nicht genau, was er hier unten suchte, aber meistens ging es ihm wie mit den Gesichtern auf den Zeichnungenvon Goya: Plötzlich entdeckte er etwas, das ihm eine Ge schichte erzählte. Und manchmal passte diese Geschichte zu dem ungelösten Fall, an dem er gerade arbeitete, brachte ihn auf ein mögliches Tatmotiv, einen vorstellbaren Tathergang, auf den Täter selbst.
    Keine dieser Geschichten war lang oder kompliziert, und keine war ein Märchen, nur eine weitere Episode aus Tausendundeiner menschlichen Nacht. Nummeriert, beschriftet und abgelegt auf endlosen Regalen, handelten sie von Mord und Totschlag, von Vergewaltigung, Raub und Betrug, den vielen Gestalten der Erbsünde.
    Der Commissaris suchte den Bambussplitter, den er neben der Leiche gefunden hatte. Er hatte das Gefühl, dass er ihn noch einmal in Ruhe betrachten, vielleicht berühren musste. Wenn es sich doch um einen Ritualmord handelte, um einen magischen Vorgang, steckte etwas von dem Zauber auch in dem Splitter. Nicht, dass er daran glaubte. Aber woran er glaubte, war nicht wichtig; er musste das glauben, was der Täter glaubte, bis zu dem Moment, in dem er ihm gegenüberstand.
    Im trüben Licht der vergitterten Lampen ging der Commissaris die engen Gassen zwischen den Regalen entlang. Er betrachtete die Objekte, die am Ende von den Geschichten übrig geblieben waren, verpackt in Zellophanbeuteln, verschnürt in Kartons. Mordwaffen mit den Fingerabdrücken der Täter und mit der DNA der Opfer, Pistolen sämtlicher Kaliber, Messer in allen Längen und Größen, Schrotflinten, asiatische Würgehölzer, Baseballschläger, eiserne Wurfsterne. Es gab eine Stricknadel, die sich durch ein Ohr gebohrt hatte. Ein Elektrokabel, das einen Kehlkopf zerquetscht hatte. Eine Injektionsspritze, die ihr Gift in eine Blutbahn entleert hatte. Eine Geflügelschere, die Haut, Sehnen und Knochen zerlegt hatte. Einen Stein, der einen Schädel zertrümmert hatte.
    Manchmal wünschte Van Leeuwen, es wäre so gewesen: dass die Gegenstände selbst die Taten verübt hätten, aus eigenem Antrieb. Dass kein Mensch dafür verantwortlich war.
    Aber die Luft zwischen den Regalen war gesättigt vom Geruch der Verbrechen, von der Ausdünstung von Angst und Wut, vonVerwesung; von

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