Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Menschen im Augenblick des Todes. Es war ein süßlicher Geruch, verwoben mit dem des Materials, in dem er sich festgesetzt hatte, in dem er getrocknet war. Van Leeuwen roch den Angstschweiß in den Achselnähten blutbefleckter Hemden, den säuerlichen Speichel auf zerbissenen Klebebändern, die staubige Fäulnis der Bettlaken, auf denen sich Menschen im gewaltsamen Sterben entleert hatten.
Es gab auch die beschlagnahmten Beweismittel: Heroin in Briefchen und prallen Päckchen, bündelweise braunfleckige Guldenscheine, Ghettoblaster, Mobiltelefone, Springerstiefel, Halsketten, Armyjacken, Markenuhren, echte und gefälschte, Wagenschlüssel, ein Kinderkleid.
Das Kinderkleid traf den Commissaris immer wieder wie ein Schlag auf die Brust, direkt über dem Zwerchfell. Er nannte es nie Kleidchen, immer Kleid, aber es half nichts. Es war wieder der 10. Oktober, ein nebeliger Herbsttag, nicht kalt, aber ohne Sonne, und aus dem Nebel wurde Rauch. Van Leeuwen blieb stehen.
»Bruno?«
Der Commissaris kehrte zurück in die Gegenwart. Hoofdin specteur Gallo stand in der Tür zur Asservatenkammer.
»Hier bin ich, Ton«, rief Van Leeuwen. Er ging weiter zum nächsten Regal, wo er das Beweisstück zu Fall 4357 fand, einen winzigen Bambussplitter in einer kleinen Zellophantüte, laut Beschriftung versehen mit Blutanhaftungen der Gruppe A, Rh-Faktor positiv. Einem Impuls folgend, griff der Commissaris danach und steckte die Tüte in die Hosentasche.
Gallo rief: »Ein Anruf von Hoofdagent Jacobs vom Zweiten Bezirk. Eine Streife hat auf der Oudezijds jemanden gesehen, auf den die Beschreibung unseres Früchtchens passt. Deniz Aylan.«
»Wo ?«
»Auf den Wallen.«
»Ruf die Streife an: Sie sollen den Jungen im Auge behalten, aber nichts unternehmen. Wir kommen hin.«
Der Feierabendverkehr verstopfte die Straßen rund um den Nieuwmarkt. In Zeitlupe rollten die Autos und Busse durch dieengen Straßen. Gallo schaltete die Sirene ein, aber die Zeiten, als Blaulicht und Sirene Wunder gewirkt hatten, waren schon lange vorbei. Er lenkte den Wagen auf den Bürgersteig, um weiter vorn an der Brücke wieder in den stehenden Verkehr einzuscheren. Fahrradklingeln protestierten schrill. Van Leeuwen ließ das Seitenfenster herunter und winkte, damit die Fußgänger ihnen Platz machten. Auf dem Trottoir kamen sie nur ein paar Meter weit, bis ein Müllberg den Weg versperrte.
Als der Hoofdinspecteur auf die Fahrbahn zurückschwenkte, gellten ihm wütende Huptöne entgegen. Der VW schlug mit der Heckstoßstange auf die Bordsteinkante. Reifen quietschten auf dem Kopfsteinpflaster. Gallo fuhr so schnell er konnte, gab Gas, bremste, kuppelte, gab wieder Gas.
Der Himmel über der Stadt war jetzt düster, von verhangenem Grün, das aufbrach, als ein Blitz die Wolkendecke spaltete. Langsam rollte Donner heran. Raschelnd regte sich das Laub der Bäume an der Gracht. Der erste Windstoß trieb eine zerknüllte Zeitung auf die Fahrbahn. Die Straßenlaternen wurden eingeschaltet und gaben einander ihr Licht weiter. In das dunkle Brausen des Verkehrs mischte sich ein silbriges Rauschen. Regen zog über die Straße wie ein Vorhang. Van Leeuwen fuhr die Seitenscheibe wieder hoch.
»Warum sind wir eigentlich hinter diesem Deniz her ?«, fragte Julika vom Rücksitz, wo sie neben Inspecteur Vreeling saß und sich mit einer Hand am Sicherheitsgriff festhielt, um nicht gegen ihn zu fallen.
»Er ist ein Stück vom Puzzle«, antwortete Van Leeuwen. »Er ist ein Teil, das uns zum nächsten Teil führt. Wenn wir den Platz gefunden haben, an den es gehört.«
»Dazu braucht man viel Phantasie«, sagte Julika.
»Man wächst mit der Herausforderung«, kommentierte Gallo.
Das Funkgerät knackte, und eine Frauenstimme sagte: »Fünf-Sie‑
ben, bitte kommen.« Van Leeuwen hob das Mikrofon aus seiner Hal‑
terung unter dem Armaturenbrett. »Fünf-Sieben«, meldete er sich.
»Wo seid ihr, Fünf-Sieben ?«, fragte die Frauenstimme aus demPräsidium. »Die Streife auf den Wallen fragt, ob ihr noch lange braucht.«
»Nein«, sagte Van Leeuwen. »Warum ?«
»Sie haben Angst, dass er sie bemerkt. Soll ich Sie verbinden, Mijnheer?«
»Ja.«
»Verstanden, Fünf-Sieben. Ende.« Die Frauenstimme verschwand aus dem Lautsprecher. Es knackte ein paarmal, dann sagte ein Mann: »Hier Neun-Acht. Bitte kommen, Fünf-Sieben.«
»Hier Fünf-Sieben«, sagte Van Leeuwen. »Was macht er gerade ?« »Sieht so aus, als hätte er Hunger. Bleibt an jeder Kneipe stehen und liest die
Weitere Kostenlose Bücher