Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
genommen kam überhaupt nur Gallo. Alle anderen schienen Angst vor ihnen zu haben, als wäre ihr geteiltes Leid ein schwarzes Loch, etwas Dunkles und Unbekanntes, das einen aufsaugen oder in einen Abgrund ziehen konnte. Krankheit und Mord sind sich ähnlich, dachte der Commissaris manchmal – man gerät damit in Berührung,und das Dunkle, Unbekannte ist plötzlich Teil des eigenen Lebens. Man nimmt den Abgrund wahr, so weit man auch davon zurückzutreten versuchte.
Simone stand auf, presste das Kissen zusammen und murmelte dringlich: »Spazieren gehen ... Müssen uns schnell anziehen !«
»Noch nicht«, beruhigte er sie, »noch nicht, erst nach dem Essen.«
»Was gibt es zu essen ?«
»Mal sehen, was da ist.« Van Leeuwen stand auf und ging in die Küche. Er inspizierte den Kühlschrank, die Brotdose, die Vorratskammer. Es gab Eier, Brot und Spargel, den er gestern nach dem Besuch in der Klinik gekauft hatte. Ein Omelett mit Spargel, dachte er, dazu etwas roher Schinken, Toskanabrot, einen Rucolasalat und einen leichten Weißwein.
Als er sich umdrehte, stand Simone hinter ihm im Türrahmen. »Wann gehen wir ?«, fragte sie.
»Jetzt noch nicht«, antwortete Van Leeuwen. »Erst musst du dich anziehen, und dann essen wir.«
»Was gibt es denn ?«
»Das ist doch völlig egal«, sagte er lauter, als er wollte. »Seit wann macht es einen Unterschied, was du isst ? Wahrscheinlich gibt es sowieso nichts, weil ich nicht kochen kann, wenn du dauernd hinter mir herläufst. Warum kannst du mich nicht wenigstens für eine Viertelstunde in Ruhe lassen !? Du bist doch keine Gans ! Willst du das den ganzen Tag lang machen !?«
»Entschuldigung«, murmelte sie. Ihr Gesicht verzog sich, als hörte sie die Zeichentrickfiguren weinen. »Muss zur Arbeit !«
»Ja, geh zur Arbeit !«, rief Van Leeuwen. »Geh zur Arbeit, so wie du bist, und verlauf dich auf dem Weg zum Laden deiner Eltern. Dann kann ich auch zur Arbeit gehen und darauf warten, dass mich jemand anruft, weil er dich nackt aus einer Gracht gefischt hat ! Hast du überhaupt die leiseste Ahnung, was du aus unserem Leben gemacht hast ?«
Simone begann zu weinen, nicht weil er schrie, sondern weil der Kummer in seiner Stimme größer war als der Zorn. Sie stand da,das Kissen gegen den Bauch gepresst, und als er verstummte, versiegten ihre Tränen. »Macht doch nichts«, sagte sie lächelnd, »weil ich dich liebe.«
Er seufzte. Er nahm sie in den Arm und führte sie aus der Küche. »Ja, ich liebe dich auch. Jetzt sage ich dir, was wir anziehen, und wann wir gehen, sage ich dir danach, und essen können wir später, auf dem Markt.«
15
Hoofdinspecteur Gallo sagte: »Ich habe nachgedacht über das, was Deniz ausgesagt hat. Und diese Tic. Vielleicht hatte der Doktor, von dem Kevin seinem Freund erzählt hat, gar nichts mit seiner Angst zu tun, und mit dem Mord auch nicht. Einen Doktor hat es gegeben, genauso wie die Drogen, aber Angst hatte Kevin vor etwas anderem, und dieses andere war es auch, das ihn getötet hat, nicht die Kleindealerei. Was meinst du ?«
»Wäre möglich«, gab der Commissaris zu. »Wir wissen nicht viel, oder ? Wir wissen, dass er Angst hatte und dass er getötet wurde und dass die Zeugen jemanden gesehen haben, der wegrannte und der klein und kalkweiß war. Aber soll ich dir sagen, was ich glaube ? Er war gar nicht weiß. Er hatte sich nur so angemalt.«
Es war später Nachmittag, und sie gingen die Egelantiersgracht hinauf zur Prinsengracht. Simone stapfte in der Mitte, untergehakt bei Van Leeuwen und fröhlich wie ein Distelfink am Morgen. Sie hatte Gallo nicht wiedererkannt, aber sie fürchtete sich auch nicht vor ihm, und manchmal schenkte sie ihm sogar ein Lächeln, nur anfassen durfte er sie nicht.
Sie sah aus wie eine Puppe, aus hellem Holz geschnitzt und mit schlecht sitzender Kleidung. Sie trug klobige Gummistiefel, eine Segeltuchhose und einen beigefarbenen Trenchcoat, dessen Gürtel sie mehrmals verknotet hatte, während Van Leeuwen damit beschäftigt gewesen war, die Knöpfe des Mantels zu schließen. Ihr Haar verschwand unter einer Finnenmütze aus roter und blauer Wolle,der Mund unter einer dicken Schicht Lippenstift. Der Simone- Look.
Früher hätte Van Leeuwen sich geschämt, so mit ihr auf die Straße zu gehen, aber inzwischen spielte das keine Rolle mehr. Einer der Vorteile, wenn man älter wird, dachte er, keine Scham, kein falscher Stolz. Auch Gallo benahm sich ganz natürlich in Simones Gesellschaft, ohne so zu tun,
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