Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
über seine Geschichte wusste. Danach brannten seine Augen, und der Rücken schmerzte bis hinauf zu den Nackenwirbeln. Seine Hände zitterten von dem vielen Kaffee, den er getrunken hatte.
Es gibt keine Kopfjäger mehr, dachte er. Es gibt keine, und wahrscheinlich hat es überhaupt nie welche gegeben, weder in Neuguinea noch anderswo.
Einmal, gegen drei Uhr morgens, war er an seinem Schreibtisch eingenickt. Im Schlaf hatte er den Jungen gesehen, der auf der Fensterbank des brennenden Hauses stand. Er hatte ihn festgehalten und schon gewusst, dass die Jacke reißen würde, und er war aufgewacht, bevor er den Jungen verlor, mit einem jähen Ruck.
Er war aufgestanden, um sich auszuziehen und sich zu waschen. Aber statt ins Bett war er danach in die Küche gegangen, wo er sich eine Kanne Kaffee gekocht und mit ins Arbeitszimmer genommen hatte, und etwas später, so schien es, war der Himmel schon hellgeworden, und die Giebel, Dächer und Turmspitzen vor seinem Fenster ragten in das Rot der Morgenluft hinein.
Es gab keine Kopfjäger; der Pathologe hatte sich geirrt. Van Leeuwen hatte den Rest des kalten Kaffees in der Küche in die Spüle geschüttet und war endlich zu Bett gegangen. Simone hatte wie immer fest geschlafen, ein lautlos atmender Schatten. Kein Kopfjäger, dachte der Commissaris, und kein Ritualmord, nicht bei uns in Amsterdam.
Kurz bevor er endgültig einschlief, erinnerte er sich an etwas, irgendetwas, das er vorhin in der Flut der Informationen aus dem Internet bemerkt, aber inzwischen vergessen hatte. Auch jetzt fiel es ihm nicht wieder ein, nur dass es da gewesen war und in einer Beziehung zu seinem Fall stehen konnte. Er tastete nach der Hand seiner Frau und hielt sie fest. Er grübelte nicht weiter. Was immer er dort entdeckt hatte, er würde wieder darauf stoßen, wenn der Zeitpunkt richtig war. Nichts verschwand für immer aus seinem Blickfeld, wenn es ihm einmal aufgefallen war.
Um zehn wachte er wieder auf, aus einem glücklichen Traum, an den er sich nicht erinnern konnte, weil das Glück einen nicht verfolgte und nicht heimsuchte. Es hinterließ keine Risse in der Seele. Schließlich stand er auf, kochte sich frischen Kaffee und nahm die Tasse mit ins Bett. Er schob sich das Kopfkissen in den Rücken und griff nach dem Buch auf dem Nachttisch, das er für schlaflose Stunden dort bereitliegen hatte, eine Chronik der ungewöhnlichsten Morde seit Kain und Abel.
Von den beigefarbenen Leinenvorhängen gedämpft, drang das Licht des frühen Vormittags in den Raum. Aus den Hinterhöfen unter dem Schlafzimmerfenster stiegen Geräusche hoch, die der Commissaris als beruhigend empfand: Alltagslärm, ein friedlicher Samstagmorgen ohne Katastrophen. Das Glockenspiel im Turm der Westerkerk durchwob die Luft mit einem Psalm, dessen helle Töne wie goldene Federn auf die Dächer der umliegenden Häuser schwebten.
Das schabende Geräusch, wenn er die Seiten umblätterte, oder das leise Klirren, wenn er die Tasse auf der Glasplatte des Nachttischsabsetzte, schienen Simones Schlaf nicht zu stören. Überhaupt schlief sie mehr und tiefer, seit sie krank geworden war. Manchmal, wenn er sie so betrachtete, war ihm, als hätte er keine echte Erinnerung mehr daran, wie sie einmal miteinander gelebt hatten. Als könnte er ihr Leben noch einmal neu erschaffen.
Es soll Künstler geben, hatte er gehört, die eine Blume erst dann wirklich sahen, wenn sie ihr aus der Erinnerung auf einer Leinwand Gestalt gaben oder sie in die Verse eines Gedichts fassten, wiedererstanden vor ihrem inneren Auge. Manchmal kam er sich vor wie einer dieser Künstler: Wenn er dachte, dass er seine Frau nie so genau gesehen hatte wie jetzt, wo er sie sich ins Gedächtnis zurückzurufen versuchte, dass er seine Liebe nie so deutlich gespürt hatte, weil sie nicht mehr so leichtfiel.
Früher wäre sie um diese Stunde längst auf gewesen und hätte unten auf der Terrasse eines Straßencafés ihren ersten Cappuccino getrunken, bevor sie sich an die Arbeit machte. Sie hätte ihm einen Kuss gegeben, leidenschaftlich oder hingetupft, und dann wäre sie gegangen, mit einem Blinzeln, mit dem schimmernden Haar, das stets zu fliegen schien. Es gab kein Früher mehr. Deswegen durfte er nicht vergessen, dass sie einmal anders gewesen war.
Er trank den Kaffee aus und legte das Buch auf den Nachttisch zurück, bevor er sich in dem Kapitel über Charles Manson festlesen konnte. Er duschte, rasierte sich und räumte die Wohnung auf. Er ging zum
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