Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
als wäre sie gesund wie eh und je: einer der vielen Gründe, warum der Commissaris seinen Hoofdinspecteur schätzte.
Über ihren Köpfen raschelten die Ulmen im Wind. Eine Möwe stieg mit sparsamem Flügelschlag vom Wasser auf und schwebte wie eine weiße Sichel zum Giebel eines Hauses auf der anderen Seite der Gracht, wo sie sich auf dem höchsten Punkt niederließ, um über den Dächern Ausschau zu halten nach allem, was für Möwen an einem späten Nachmittag wie diesem von Interesse sein konnte.
Simone blieb unvermittelt stehen, als wäre ihr etwas eingefallen, dann drehte sie um und trat ans Ufer. Dort verharrte sie im verschleierten Sonnenschein und starrte hinunter in den Kanal. Auch Van Leeuwen und Gallo blieben stehen. »Wie war’s mit Brigadier Tambur im Krankenhaus ?«, fragte Gallo.
»Sie gibt sich Mühe«, brummte der Commissaris.
Gallo sagte nichts, nur ein Lächeln huschte über seine Lippen. In der Nachmittagssonne leuchteten seine Augen wie Bernstein, und das blonde, wie üblich ungekämmte Haar flatterte im Wind. »Ich habe über das nachgedacht, was du gesagt hast, und sie beobachtet. Es ist mehr als nur Mühe. Sie arbeitet wirklich hart daran, das ganze Kuddelmuddel in den Griff zu kriegen. Dieses Durcheinander aus Sehnsucht, Liebe, Respekt, Nähe, Distanz, cool sein und Gefühle zeigen.«
»Da wäre sie die Erste, die das schafft«, sagte Van Leeuwen.
»Du hast es doch auch geschafft. Du liebst Simone, ohne deswe‑
gen blöd zu werden. Und du respektierst sie, selbst jetzt noch.« »Sie verdient es«, sagte Van Leeuwen.
»Denkst du manchmal daran, sie in ein Heim zu geben ?«
»Sie hat Angst vor fremden Menschen. An Ellen hat sie sichgewöhnt, aber es hat lange gedauert. Damals hat sie ihr Opfer gebracht, jetzt bringe ich meins. Wir sind fast dreißig Jahre verheiratet, davon waren mindestens fünfundzwanzig schön. Wegen ihr war ich sehr oft glücklich, ohne ein Anrecht darauf zu haben. Sie würde mir fehlen.«
»Was für ein Opfer ?«, fragte Gallo.
»Kinder«, sagte Van Leeuwen. »Ich wollte nie welche haben. Ich weiß, dass Simone gern welche gehabt hätte. Als ich es ihr gesagt habe, hätte sie mich verlassen und woanders ein vollkommeneres Glück suchen können. Aber sie hat darauf verzichtet, und zwar ohne großes Tamtam. Sie hat mir keine Szene gemacht, hat mich nicht erpresst, hat keine Bedingungen gestellt. Sie hat akzeptiert, dass es als Beweis für unsere Liebe nur uns gibt. Und ich habe versucht, dafür zu sorgen, dass es wirklich Liebe ist.«
Gallo schwieg wieder. Dann fragte er behutsam: »Hast du nie – ich meine, man hat doch seine Gefühle nicht immer unter Kontrolle, oder ? Man verliebt sich doch mal, selbst wenn die eigene Frau nicht –«
Der Commissaris seufzte. »Klar gab es immer mal wieder jemanden, bei dem man in Versuchung geraten konnte – eine Kollegin von Simone aus dem Telegraaf -Zoo oder eine Frau, der man bei den Ermittlungen näherkommt, oder eins von unseren Mädchen beim Belegschaftsausflug. Und ich hätte mir auch einreden können, dass es nicht so schlimm ist, dass es niemandem wehtut, weil es nie jemand erfahren wird, aber dann habe ich es doch nicht übers Herz gebracht, uns das anzutun.«
»Warum wolltest du keine Kinder haben ?«
»Es war einfach so. Wenn man Kinder hat, muss man ihnen ein guter Vater sein. Ich war nicht sicher, ob ich das schaffen konnte. Oder wollte. Aber man muss sicher sein.«
»Hat es dir jemals leidgetan ?«
»Nein. Manchmal für Simone. Für mich nie.«
»Du wärst ein guter Vater geworden.«
»Um das herauszufinden, ist es zu spät.«
»Wie lange schaffst du es, so weiterzuleben ?«»Mal sehen«, sagte Van Leeuwen. »Im Augenblick sehe ich mich so: Ich bin ein Überlebender des Happyends.« Er fand, dass Simone jetzt lange genug an der Gracht gestanden hatte, und trat zu ihr, um zu sehen, was sie so in den Bann schlug.
Das Wasser war grün und schwarz und voller Unrat, der gemächlich dahintrieb. Unter der Oberfläche wuchsen Algen und langarmige Pflanzen, die sich schwankend in der schwachen Strömung wiegten. An den moosbewachsenen Steinen kletterten Wasserspinnen über den nassen Bewuchs. Ein dunkler Fisch stand reglos in der Dunkelheit des unsichtbaren Grundes. Wenn man lange genug hinuntersah, hatte man das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, hinabzusinken in den Schlick. Die Zeit blieb stehen, während das Wasser floss. Plötzlich stieß eine Möwe herab wie ein weißer Blitz. Van
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