Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Fälle, keine Aussicht auf Profit. Schließlich ist CJ D keine Volkskrankheit wie Alzheimer. Aber wenn es gelänge, ein Medikament auf den Markt zu bringen, das bei beiden Krankheiten zum Einsatz kommen könnte, sähe die Sache schon anders aus. Deswegen haben wir, meine Kollegen und ich, angefangen, die Rückenmarksflüssigkeit von Alzheimer-Patienten zu untersuchen, um eine Methode der Früherkennung zu finden. Im Rückenmark, müssen Sie wissen, findet die Spülung fürs Gehirn statt, und bei CJ D und Scrapie ist es uns jetzt gelungen, im Liquor der Wirbelsäule Ablagerungen der Erkrankung im Gehirn festzustellen –«
»Und wenn Ihnen das bei Alzheimer auch gelingt –«
»Es ist nur eine Diagnosemöglichkeit, noch keine Therapie, Mijnheer«, wiegelte Pieters ab. »Aber als meine Sekretärin mir Ihren Namen nannte, dachte ich, es handele sich um eine dienstliche Angelegenheit. Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen. Sie ermitteln in einem Mordfall.«
»Ich rufe nicht als Polizist an«, sagte Van Leeuwen.
Pieters schwieg einen Moment lang. Dann sagte er: »Mijnheer van Leeuwen, ich nehme an, bei jemandem aus Ihrer Familie ist Alzheimer diagnostiziert worden ?«
»Ja.«
»Das tut mir leid. Ich kann Ihre Sorge und Ihren Schmerz nachvollziehen, und ich bedaure Ihr Schicksal. Aber meine Forschungen gehen in eine ganz andere Richtung. CJ D und B S E mögen vielleicht immer häufiger in einem Atemzug mit Alzheimer genannt werden, aber die einzigen Ähnlichkeiten sind amyloide Plaques und anomale Eiweißkörper, falls Ihnen das etwas sagt. Nichts von dem,was ich tue, kann die Zeit zurückdrehen und Ihnen Ihren Verwandten so wiedergeben, wie er einmal –«
»Warum werden die Rinder wahnsinnig ?«, fragte Van Leeuwen. »Wie bitte ?«
»Ich habe Rinder immer gemocht«, sagte der Commissaris. »Es sind sehr friedliche, freundliche Tiere. Warum werden sie wahnsinnig?«
»Zuerst sind es die Schafe«, antwortete Pieters ohne den geringsten Anflug jener Herablassung, die sich in Terlindens Erklärungen einzuschleichen pflegte. »Erst werden die Schafe wahnsinnig und dann die Rinder. B S E beginnt mit Scrapie, einer natürlich vorkommenden, aber leider übertragbaren Gehirnerkrankung von Schafen. Nachdem sie gestorben sind, werden ihre Kadaver zu Tiermehl verarbeitet und an Rinder verfüttert, Fleisch, Knochen, Gehirn, alles. Dabei stecken sich die Rinder an, indem sie die Kadaver von an Scrapie verendeten Schafen fressen. Waren Sie schon einmal in einem Schlachthof, Mijnheer ?«
»Nein.«
»Ich schon. Ich habe zugesehen, wie die Köpfe geschlachteter Rinder zur Weiterverwertung auf Lastwagen verladen werden, hundertfünfzig, zweihundert, alle auf einem riesigen Haufen auf der Ladefläche eines einzigen Lastwagens. Ich stand nah genug, um zu sehen, wie die Gehirnflüssigkeit aus den abgetrennten Hälsen auf die Köpfe darunter gelaufen ist. Sie hat alles verseucht, womit sie in Berührung gekommen ist, und als die Köpfe in der Abdeckerei ankamen, wurde das Fleisch aus den Backen geschnitten, um daraus Hamburger zu machen.«
Van Leeuwen dachte an die Aufnahmen, die er im Fernsehen gesehen hatte, von den Bulldozern und den Holstein-Rindern: wie die Bulldozer mit ihren Schaufeln diese Berge von Kadavern vor sich hergeschoben hatten und wie apokalyptisch dieser Anblick auf ihn gewirkt hatte. »Warum das Fleisch von Köpfen ?«, fragte er.
Pieters antwortete: »Weil es billig ist, von sehr schlechter Qualität. Am Ende stehen dann Menschen mit Creutzfeldt-Jakob, die auf dieselbe schreckliche Weise sterben wie die von B S E befallenenRinder. Man könnte sagen, die Tiere wehren sich dagegen, gefressen zu werden, vor allem von ihresgleichen. Sie schlagen zurück, und den Menschen trifft es, weil er sich nicht scheut, Tiere an Tiere zu verfüttern. Er zwingt sie gewissermaßen zum Kannibalismus, und dann isst er sie auch noch.«
Kannibalismus, dachte Van Leeuwen; erst bei den Menschen, dann bei den Tieren. Oder umgekehrt. Er konnte nicht mehr klar denken. »Was passiert dann erst, wenn Menschen andere Menschen essen«, sagte er gedankenlos und rieb sich die brennenden Augen.
Am anderen Ende der Leitung war einen Moment lang nur Pieters’ Atmen zu hören. Dann fragte der Professor vorsichtig: »Was wollen Sie damit andeuten ?«
»Nichts«, sagte der Commissaris und fragte sich, ob es an der Nacht ohne Schlaf und an dem Inhalt des Koffers lag, dass sich ihm das Gespräch plötzlich wie eine Schlinge um den Hals zu legen
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