Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
dieses Gefühl erinnerte: das Gefühl der Scham.
»Uns ist nicht zu helfen«, sagte er leiser.
Danach war es, als erwachte er allmählich aus einer Narkose. Während die Wirkung der Betäubung nachließ, nahmen die Einzelheiten des lange zurückliegenden Betrugs in grausamer Unerbittlichkeit immer schärfere Konturen an. Die Worte aus den Briefen kreisten vor seinen Augen, amore, desiderio, passione, per sempre ... Sogar in alphabetischer Reihenfolge, dachte er.
Erfüllt von Zorn, Zweifel und Demütigung, bewegte er sich wieein Gespenst durch das Halbdunkel seiner Wohnung, und wenn Simone plötzlich hinter ihm auftauchte, schlug er ihr die Tür vor der Nase zu. Am Nachmittag legte er sich dann hin. Kurz vor dem Einschlafen dachte er, dass es nicht nur der Betrug war, der ihm so zusetzte, sondern vor allem die Angst, seinem ganzen bisherigen Leben nicht mehr trauen zu können.
Als er zwei Stunden später aufwachte, lag Simone schlafend neben ihm. Er fühlte sich noch elender als vorher. Verlust, dachte er, was für ein kurzes, schroffes Wort.
Durch die offene Tür konnte er die Kommode in der Diele se hen, auf der die Briefe lagen, wie gefährliche Fallen, die nur darauf warteten, dass er die Hand danach ausstreckte, um zuzuschnappen und sein Leben weiter zu vergiften. Endlich, als es im Zimmer schon dunkel zu werden begann, gab er sich einen Ruck und dachte, jetzt hast du dich genug bemitleidet. Du lässt dich von niemandem aus der Bahn werfen, von keinem Hoofdcommissaris, keinem Kopfjäger und keinem Liebhaber aus der Vergangenheit.
Er stand auf, um noch einmal zu duschen und sich die Haare zu waschen. Als er die Dusche aufdrehte, sickerte ein rostfarbenes Rinnsal aus der ächzenden, klopfenden Leitung. Er wartete, bis das Wasser klar wurde, ehe er unter den Duschkopf trat und sein Gesicht mit geschlossenen Augen dem kalten Prasseln entgegenhielt. Exorzismus, dachte er und spürte, wie sich der von Alkohol und mangelndem Schlaf geschwollene Körper straffte.
Später rief er Ellen an, und als sie kam, stand er schon auf dem Treppenabsatz. Er ging zur Straßenbahnhaltestelle Rozengracht, um mit der Tram zum Weesperplein zu fahren, wo er die Metro Richtung Gein nehmen wollte. Es war wieder kühler geworden. Am Weesperplein stieg er um. Aus dem U-Bahn-Schacht schlug ihm warmer Dunst entgegen. Lautsprecheransagen hallten in den gekachelten Gängen wider. Donnernd schoben die U-Bahn-Züge verbrauchte, staubige Luft durch die Gleisröhren. Schon nach wenigen Atemzügen spürte Van Leeuwen, wie sich ihm Ruß und der Geruch nach versengtem Gummi auf die Lunge legten.
Während er auf die Linie 54 wartete, musterte er die anderen Fahrgäste, die mit ihm am Bahnsteigrand standen. Ein Blick auf die verschlossenen Gesichter genügte, und er wusste, wen er vor sich hatte. Er sah sie, und er wusste alles, er kannte jeden. Es gab kein Geheimnis. Außer in seinem eigenen Haus.
Der Zug fuhr ein. Der Commissaris wartete, bis die Fahrgäste ausgestiegen waren, dann betrat er den Waggon und blieb gleich an der Tür stehen. Die Beleuchtungskörper an der Decke flackerten. In der Tunnelröhre verwandelten sich die Fenster in eine spiegelnde Fläche, und Van Leeuwen sah sich und die anderen Passagiere, durchscheinend wie Geister. Er spürte den Druck der Briefe auf seiner Brust. Nach einiger Zeit verließ die Bahn den Untergrund und stieg hinauf in die Nacht, und noch etwas später ratterte sie auf Stelzen dahin. Am Bahnhof Bijlmer stieg Van Leeuwen aus. Ein scharfer Wind, noch kälter als in der Stadt, packte ihn. Er wünschte, er hätte einen dickeren Mantel angezogen.
Hinter der Haltestelle ragten die Betonwaben von Bijlmermeer in den Abendhimmel, wie die Felsbänke einer riesigen vorzeitlichen Kultstätte. Die erleuchteten Fenster stanzten geheimnisvolle Muster in die Dunkelheit. Dazwischen schwebten die Zufahrtsstraßen auf Zementträgern, und die Scheinwerfer der Autos bildeten ein glitzerndes Laufband über den Dächern der Geschäfte. Vereinzelte Peitschenlampen begleiteten die asphaltierten Fußgängerwege von der Metrostation zu den Parkhäusern und dann weiter in die Kluften zwischen den Häuserblocks.
Jeder Polizist kannte den Ruf der Trabantenstadt zehn Kilometer südöstlich des Zentrums: die Bronx von Amsterdam; fünfzigtausend Bewohner, acht von zehn eingewandert, legal und illegal, von den Antillen, aus Surinam, Pakistan oder Ghana. Ein futuristisches Ghetto, in dem mehr als die Hälfte der Häuser leer stand,
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