Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
war sie in Lissabon, und mit wem ? Wer hat den Akt auf dem Zinkquadrat gemalt, diese Frau, die Simone so sehr ähnelt ? Von wem stammen die Ohrringe ?
Van Leeuwen kannte keine Zurückhaltung mehr. Er riss das Kuvert auf, betrachtete die Fotos. Schnappschüsse, schwarz-weiß und farbig, von ihm, von ihr, von gemeinsamen Freunden; sie reichten zurück bis fast in ihre Kindheit in Nes. Der Mann vor dem Rathaus in Siena tauchte nicht noch einmal auf.
Mit seinem Taschenmesser zerschnitt Van Leeuwen den Bindfaden, der die Briefe zusammenhielt. Es gab keinen Absender auf den Kuverts, nur Simones Namen und ihre Adresse in kühner, nach rechts geneigter Schrift. Italienische Briefmarken, deren Wert noch in Lira angegeben war. Er zog einen der Briefe aus seinem Kuvert. Sie waren auf Italienisch, immer dieselbe Schrift, große Abstände zwischen den Zeilen.
Van Leeuwen spürte, wie die Luft vor seinen Augen zu flimmern begann. Es war die Anrede. Er konnte nicht genug Italienisch, umzu verstehen, was in dem Brief stand, aber die Anrede verstand er: amore mio . Und er verstand einzelne Worte, verteilt auf die wenigen Zeilen mit den großen Abständen dazwischen, noch einmal amore und desiderio und da, passione , und da, ti amo tanto , und endlich, am schlimmsten, Sim carissima. Auf der anderen Seite las er die Unterschrift: Sandro .
Sandro, das war der Name, den sie gesagt hatte, vor einigen Nächten.
Van Leeuwen konnte sich nicht einreden, dass diese Briefe an eine andere Frau gerichtet waren; das ging nun nicht mehr. Aber bestimmt war es eine aussichtslose, einseitige Affäre gewesen. Dieser Sandro – wer immer das war, wo immer sie ihn kennen gelernt hatte – hatte ihr geschrieben, in seiner Sprache, in ihrer Sprache, denn sie konnten ja Italienisch, sie beide.
Warum hatte Simone ihm nicht davon erzählt ? Sie hatten einander immer bedingungslos vertraut, in allem. Es musste einen Grund geben, warum sie ihm die Existenz eines Mannes verheimlichte, der ganz offenbar in sie verliebt war. Er hatte versucht, sich in ihr Leben zu drängen, das auch sein Leben war.
Van Leeuwen zählte die Briefe, es waren neun. Der letzte war enger beschrieben, die Schrift war anders und die Tinte auch. Wie die acht anderen war er auf Italienisch, sodass Van Leeuwen einen Moment lang brauchte, bis ihm klar wurde, dass es die Schrift seiner Frau war. Er las die Anrede, Sandro caro, carino ! , und als er das Blatt umdrehte, sah er die Unterschrift: per sempre, Sim .
Sim.
Er merkte, wie ihm übel wurde. Er blinzelte. Das Licht der Lampe an der Wand über seinem Kopf erschien ihm plötzlich blendend hell. Ihm war, als drehte sich der kleine Raum um ihn. Er saß auf dem Boden neben dem Koffer, und dann stand er im Schlafzimmer neben dem gemeinsamen Bett, und noch immer drehte sich alles. Er begriff nicht ganz, was geschah. Er wartete darauf, dass noch etwas anderes geschah, etwas, das er begreifen konnte. Dass er wütend wurde oder dass Simone aufwachte und ihn sah und mit ihm redete, damit sein Leben aufhörte, sich um ihn zu drehen. Er stand imDunkeln vor dem Bett, und Simone lag da und schlief, und nichts geschah.
Endlich begriff er, dass nichts mehr geschehen würde, weil alles schon geschehen war.
Er zog sich aus und ging ins Bett. Aber obwohl er so müde war wie selten zuvor, schlief er nicht ein. Er lag neben seiner Frau, die er nicht mehr kannte. Wovon träumt jemand, der alles vergessen hat ?, dachte er. »Hast du mich je geliebt ?«, flüsterte er. »Hast du mich überhaupt jemals geliebt ?«
18
Der Zorn kam erst später. Der Zorn kam mitten in der Nacht, und von nun an war er da. Van Leeuwen stand auf, denn er konnte plötzlich nicht mehr neben seiner Frau liegen. Da lag sie und schlief, während sich in ihm ein Messer drehte. Wenn er sie ansah, war ihm, als schwanke die Erde. Er wollte sie packen, schütteln und auf sie einschreien, warum hast du das getan, war es das erste Mal, wie lange hat es gedauert, wer ist dieser Sandro, antworte, antworte !
Aber er ließ sie schlafen und fühlte sich doppelt betrogen, denn nie würde er eine Antwort auf diese Fragen erhalten. Er konnte nicht tun, was jeder Mann und jede Frau an seiner Stelle getan hätte. Er konnte niemanden zur Rede stellen, keine Erklärungen verlangen, sie nicht zu Scham und Reue zwingen. Die Worte aus ihrem Brief kreisten in seinem Kopf, aber er konnte sie ihr nicht entgegenschleudern. Er konnte sie nicht verhören, beschuldigen, in die Enge treiben. Er konnte
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