Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
gestattete eine Glasvitrine den Blick auf trockenen Kuchen, welkende Salate und halb leere Vorspeisenschüsseln unter Frischhaltefolie.
Der Commissaris und seine Leute saßen in einer Ecke, in der das Licht kaum ausreichte, dass man sein Glas finden konnte. Die Holzplatte des runden Tischs war mit Brandspuren von Zigarettenglut und Bierflecken bedeckt, und am rauchgeschwärzten Plafond über ihren Köpfen drehte sich ein Metallpropeller träge in der stickigen Luft.
»Wo sollen wir mit dem Suchen anfangen ?«, fragte Julika. Sie gab durch nichts zu erkennen, dass sie sich seit dem Abend in ihrer Wohnung zu Vertraulichkeiten berechtigt fühlte. Gut, dachte Van Leeuwen; er hatte sie richtig eingeschätzt.
»In der Nähe, da wo der Junge gewohnt hat«, sagte er. »Je weiter er sich davon entfernt hat, desto größer ist das Risiko für den Mörder geworden. Beim ersten Mal war es eine spontane Tat, vielleicht, weil er schnell handeln wollte oder von einem Instinkt mitgerissen wurde. Diesmal hat er sein Opfer vorher beobachtet. Die Gegend um das Abbruchhaus ist einsam, nachts muss sie wie ausgestorben sein. Vielleicht hat er ihn in den Hafen geworfen. Ihr solltet die Wasserpolizei um Hilfe bitten. Was ist mit den anderen, mit dieser Robbie und mit Tic ?«
»Die wohnen beide bei ihren Eltern«, antwortete Gallo. »Die von Robbie sind etwas merkwürdig, nicht wirklich bereit zur Zusammenarbeit. Erst wollten sie uns nicht glauben, dass ihre Tochter hin und wieder auf den Strich geht, was ja verständlich ist. Aber dann haben sie sich überzeugen lassen, vor allem, weil wir ihr nichts anhängen wollten. Zumindest in der nächsten Zeit dürfte der Mörder es schwer haben, an eine von den beiden ranzukommen, falls er das überhaupt will.«
»Gut«, sagte Van Leeuwen. »Was hat die Fahndung ergeben ?«
Gallo breitete die Hände aus. »Nichts. Manchmal habe ich das Gefühl, hier leben inzwischen mehr Einwanderer als Amsterdamer, und die meisten davon sind farbig, besonders unter den Jugendlichen.«
Van Leeuwen nickte; damit hatte er gerechnet. »Haben wir inzwischen von Professor Terlinden die Liste mit dem Klinikpersonal ?«
Julika holte ein Kuvert aus ihrer Lederjacke, dem sie mehrere Bögen Papier entnahm. »Kam heute Morgen mit der Post. Es sind ungefähr sechzig Personen – Professoren, Chefärzte, Oberärzte, Assistenzärzte, Anästhesisten, Pfleger, Schwestern ...«
Sie gab Van Leeuwen die Liste. Er überflog die Namen, die nach Abteilungen und noch einmal nach Anfangsbuchstaben geordnet waren. Er entdeckte auch die Namen van Leer und Terlinden.
»Viele von denen sind weltweit anerkannte Koryphäen«, sagte Julika, »Kapazitäten auf ihrem Gebiet, Forscher, preisgekrönte Wissenschaftler –«
»Wissenschaftler sind auch nur Menschen«, brummte Van Leeuwen, »selbst wenn sich einige von ihnen aufführen wie ein Pfau. Ihr wisst doch, was die alten Römer mit Pfauen gemacht haben. Sie haben ihnen die Federn ausgerissen und sie sich beim Essen in die Speiseröhre geschoben, damit sie besser kotzen konnten. Die Vorstellung hilft, falls einer unbedingt sein Rad vor euch schlagen will.«
Inspecteur Vreeling deutete auf die Namensliste. »Und die sollen wir alle verhören, Mijnheer ?«
»Jeden Einzelnen«, sagte der Commissaris. »Findet heraus, wer Zugang zu Drogen hatte und zu welchen, was für Kontrollinstanzen es gibt, wie man sie umgehen kann, ob was fehlt, seit wann es fehlt, wann es wieder reinkommt, und vor allem, lasst euch nicht einschüchtern.«
»Da fällt mir ein, beim Hoofdcommissaris hat sich einer von denen nach unserem Fall erkundigt«, warf Gallo ein, »ein gewisser Doktor Pieters. Er sagte, du hättest ihn angerufen und ihm erzählt, dem toten Jungen sei das Gehirn entfernt worden.«
»Das stimmt«, gab Van Leeuwen zu.
»Er wollte alle Einzelheiten wissen«, sagte Gallo. »Der Fall schien ihn zu faszinieren.«
Van Leeuwen suchte den Namen von Doktor Pieters auf der Liste und fand ihn. »Den übernehme ich selbst«, sagte er.
Gallo sagte: »Der Hoofdcommissaris klang, als hätte er Eiskristalle auf der Zunge. Er hat irgendwas von unbefugter Weitergabe interner Ermittlungsergebnisse gemurmelt und –«
»Von mir aus kann er auf seiner eigenen Zunge Schlittschuh laufen«, sagte Van Leeuwen. »Wenn ihr die Leute auf der Liste befragt, fangt mit denen an, die in unmittelbarer Umgebung von Doktor Ruth van Leer arbeiten. Vielleicht ist der Junge nur zufällig auf etwas gestoßen, auf das, was ihm
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