Und was, wenn ich mitkomme?
weitere Tablette ein. Heute werden wir auf den Camino Frances stoßen. Eigentlich wollten wir die letzten 42 Kilometer von Arzúa aus in einem Rutsch durchlaufen, aber ob ich das schaffe, ist nicht gesagt. Die heutigen 22 Kilometer reichen mir schon. Dabei wäre es toll, morgen — an meinem Geburtstag — in Santiago anzukommen. Außerdem habe ich keine Lust auf ein Wettrennen mit den anderen Pilgern um einen Schlafplatz in irgendeiner albergue auf dem Weg.
Habe mit Eva ein kontroverses Gespräch über die Gestaltung des morgigen Tages. Wir möchten gerne gemeinsam zu Fuß Santiago erreichen. Eva würde dafür auch eine zusätzliche Übernachtung auf dem französischen Weg in Kauf nehmen. Ich möchte aber unbedingt morgen ankommen, würde dafür auch ein Stück Busfahrt akzeptieren. Mal sehen, was wird. Ist auch vom Wetter abhängig.
Um fünf beginnt es wieder einmal zu regnen. Nass laufen wir in Arzúa ein. Hier wimmelt es nur so von Pilgern. Vor einem Restaurant sitzen ca. 40 Wanderer, mehr, als wir auf unserem ganzen bisherigen Weg getroffen haben. Buen Camino! Wir checken in einem kleinen hostal ein, alles sehr einfach, aber sauber, und wir haben ein Zimmer für uns beide allein. Trotz unserer Meinungsverschiedenheit und obwohl wir noch keine einvernehmliche Lösung gefunden haben, haben wir uns emotional nicht voneinander entfernt. Wir schaffen es sogar, unsere Zweisamkeit schön zu finden. Da sind wir wohl auf dem Weg schon weitergekommen.
Beim menu del dia im Speiseraum unseres hostals tauchen überraschend die A-Mädels und Moni auf. Das nenne ich eine Spürnase. Die vier werden auch hier übernachten, und so brechen wir morgen vielleicht gemeinsam auf. Das wäre toll!
39. TAG ARZÚA — SANTIAGO DE COMPOSTELA
Pit hat Geburtstag. Ich wecke ihn mit einem Minikuchen, den ich gestern unterwegs gekauft habe. Ich habe ein paar »Kinderkerzen«, die ich im selben Geschäft wie den Minikuchen erstanden habe, hineingepiekst. Als Pit die Augen aufschlägt, ist das Leuchten der Flammen das Erste, was er sieht. »Herzlichen Glückwunsch«, sage ich, und dann gebe ich ihm sein Geschenk — nichts, was man in Papier packen, nichts, um das man eine Schleife binden kann. »Ich schenke dir deine Grenze«, sage ich. Verwundert schaut er mich an und deshalb erkläre ich: »Gestern haben wir leider keine gemeinsame Lösung gefunden. Aber du weißt, was ich denke, nämlich, dass ich oft das Gefühl habe, in meinen Bedürfnissen zu kurz zu kommen, andererseits dich aber auch nicht in deinen beschneiden möchte. Ich glaube nicht, dass es bei den Schmerzen in deinem Fuß Sinn macht, die Etappe bis Santiago durchzulaufen. Aber ich weiß, dass du unbedingt heute dort ankommen willst. Also schenke ich dir diesen Tag — und wenn du willst und es schaffst, laufe ich mit dir heute noch bis ans Ende der Welt. Heute werde ich alles fertigbringen, damit du diesen Tag so haben kannst, wie du es willst, einschließlich deiner eigenen Grenzen.« Mehr habe ich Pit nicht zu geben.
Der Camino war meine Idee. Ich wollte ihn laufen, um herauszufinden, ob ich die bin, die ich zu Hause in meinem Alltag zu sein scheine, um herauszufinden, was ich wirklich schaffe, um meine Möglichkeiten und Grenzen auszuloten, um meine Bedürfnisse aufzuspüren, mich selbst wahr- und ernstzunehmen und eigene Entscheidungen zu treffen. Santiago zu Fuß zu erreichen sollte meinen persönlichen Höhepunkt und Triumph darstellen. Und nun gebe ich an diesem Morgen das alles meinem Mann. Ich weiß, dass ich das nicht aus Liebe tue, nicht einmal aus Nachgiebigkeit oder dafür, dass er mir für immer und ewig dankbar ist. Ich tue das, weil ich es leid bin, der Anlass für seine Rücksichtnahme zu sein, weil ich nicht mehr herhalten möchte für sein Gefühl der Überlegenheit und Stärke. Heute ist der Tag, endlich damit Schluss zu machen — sein Geburtstag.
Zu Pits großer Enttäuschung frühstücken wir ohne unsere Camino-Freundinnen. Wir brechen auch ohne sie auf, dafür aber mit Scharen anderer Pilger. Der Weg ist weich und führt durch Eukalyptuswälder. Es gibt kaum Steigungen, aber leider wieder Regen, keinen sanften Sommerregen, keinen plötzlichen und schnellen Guss, sondern ein wahres Unwetter, das sich über Stunden hinzieht, an unseren Regencapes zerrt und an unseren Nerven. Die Schuhe sind quatschnass bis auf die Füße. Mein rechter Wanderstiefel ist sogar an einer Naht aufgerissen, und das Wasser durchweicht ungehindert Strümpfe und Haut. In der
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