Und was, wenn ich mitkomme?
am Ende bliebe nichts übrig als dieses Lager, exemplarisch für das Pilgern auf dem Jakobsweg. Ich kann es einfach nicht ertragen und sage Pit, dass ich überall meinen Schlafsack ausrollen werde, nur nicht hier. Hier ganz bestimmt nicht.
Und er? Er sagt, dass er keinen Schritt weitergeht, nicht mehr gehen kann und am Ende ist. Eine Patt-Situation. Wir sitzen auf einer Bank auf einer der Straßen, die abwärts mitten durch den riesigen Herbergskomplex führen, schweigen und lassen die Zeit verstreichen, weil wir zu nichts anderem mehr fähig sind. Langsam zieht der Spätnachmittag an uns vorüber. Dies ist Pits Tag — sein Geburtstag — und da gibt es immer noch sein Geschenk. Ich weiß nicht, warum ich es nicht endlich zurücknehme. Aber auch jetzt überlasse ich ihm die Entscheidung. Wir werden mit dem Bus fahren. Die letzten Kilometer...
Mir ist schlecht vor Entkräftung, und ich kann nicht aufhören zu heulen. Moni und die A-Mädels sind nirgendwo zu finden. Das hostal, in dem wir zusammen übernachten wollten, hat keine Zimmer mehr frei. In der Rua de San Roque finden wir eine günstige Alternative, ein winziges Zimmerchen ohne jeden Komfort, nicht mal ein Fernseher, aber frische Betten. Am Monte de Gozo war ich mir sicher, keinen einzigen Tag mehr zusammen mit Pit auszuhalten, weil ich es einfach nicht ertrage, was er mit mir macht. Aber ich habe keine Kraft, meinen Vorsatz in die Tat umzusetzen und mir ein eigenes Zimmer zu suchen. Ich bin nur noch froh, endlich auf ein Bett niedersinken zu können, rolle mich in meine Decke und weine. Fast zwei Stunden liege ich so da und komme nicht mehr hoch. Pit liegt im Bett neben mir, auch er unfähig, irgendeine Initiative zu ergreifen. Dabei müssten wir essen, unser Proviant ist aufgebraucht. Aber keiner von uns schafft es, nach unten und in den Laden nebenan zu gehen, um etwas einzukaufen.
Plötzlich ein zaghaftes Klopfen an unserer Zimmertür. Davor steht unsere Zimmernachbarin, Anja aus Deutschland. Sie hat mitbekommen, dass wir auch Deutsche sind, und erzählt, dass sie den französischen Weg gelaufen ist, erschöpft ist und Heimweh hat. Morgen fliegt sie nach Hause. Sie hat aber noch Lebensmittel. Ob wir die haben wollen? Wenn nicht, muss sie sie wegwerfen. Und das wäre doch schade.
Wie bei Elia aus dem Alten Testament, der zu Tode erschöpft in der Wüste liegt und sterben will, erscheint uns ein Engel Gottes, der uns versorgt und uns gibt, was wir brauchen. Anja bringt Rotwein und Joghurt, Brot und Käse und Schokoladenplätzchen. Und im Gegenzug laden wir sie zu uns ein und hören uns ihre Geschichte an. Sie schüttet ihr Herz bei uns aus, und dabei teilen wir das Brot, essen den Joghurt und trinken den Wein aus den leeren Joghurtbechern. Indem wir Anja zuhören, rückt unsere eigene Verzweiflung in den Hintergrund, wird kleiner und scheint längst nicht mehr so wichtig. Für unseren Körper, aber auch für unsere Seele ist gesorgt, die Prioritäten werden zurechtgerückt. Wir haben Anja nur dieses eine Mal gesehen — aber es war genau der richtige Zeitpunkt. Bis wir uns trennen, wird es elf Uhr. Was für ein Tag!
40. TAG SANTIAGO
Aus Pits Tagebuch:
Warum tue ich so was? Was habe ich davon außer einem geschwollenen Knöchel, einer schmerzenden Sehne, Enttäuschung, Überforderung, einer verletzten Frau? Ich habe zwar eine Compostela, auf der steht, dass ich am 23. Mai in Santiago angekommen bin, aber das ist mir so was von egal. Ich habe schlecht geschlafen letzte Nacht. Das Bein tut weh wie die Hölle, und der Knöchel ist dick wie eine Kartoffel. Jede Bewegung hat mich aufgeweckt. Eva ging es kaum besser.
Schon in Arzúa haben wir uns mit Uli, Petra und Doris um halb zwölf vor der Kathedrale verabredet. Doris erwartet uns. Der Pilgergottesdienst erreicht mich nicht. Irgendwie fühle ich mich unwürdig. Wir müssen die ganze Zeit stehen, weil alle Plätze besetzt sind. Die Nonne singt schön, der Jakobus ist golden, der Weihraucheimer wird 65 Meter durchs Querschiff geschleudert. Amen und dann alle Mann (und Frau) raus.
Wir gehen noch einkaufen, legen uns wieder ins Bett und reden lange über den gestrigen Tag und was er mit unserer Beziehung gemacht hat. Eva sagt, dass der Camino unsere Ehe widerspiegelt: Ich setze meinen Willen durch auf Kosten ihrer Lebenskraft. Ständige Überforderung ist das Ergebnis. Sie liebt mich. Aber so will sie nicht mehr mit mir leben.
Um halb fünf bummeln wir noch ein bisschen durch die Stadt und treffen die
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