Und was, wenn ich mitkomme?
Ferne donnert es, und eine dunkle Wetterwand schiebt sich unaufhaltsam näher. Blitze zucken direkt über uns. Wir stellen uns eine Weile unter, erst in einer Hofeinfahrt, dann in der Werkshalle einer Schreinerei. Aber natürlich können wir nicht bleiben. Den Blick auf den Meter vor unseren Füßen gerichtet, wandern wir weiter. Gnadenlos peitscht der Regen auf uns herunter.
Bis Santa Irene, der ersten Möglichkeit zu übernachten, sind es 17 km. Massen von Pilgern warten schon vor der noch verschlossenen Herbergstür. Es ist noch nicht einmal Mittag und vor fünf kommt hier niemand rein. Uns ist kalt, der Regen hat aufgehört, wir haben in einem Unterstand aus Holz etwas von unseren Vorräten gegessen. Pit meint, wir sollten weitergehen. Leider holt uns das Unwetter wieder ein. Wir waten durch Pfützen. Unsere Regenumhänge klatschen an unsere Beine. Der Rucksack scheint Tonnen zu wiegen. Unterwegs stoßen wir auf eine Casa Rural, eine privat geführte Pension, aber auch dort will Pit nicht bleiben. Sein Ziel steht ihm vor Augen: Santiago! Dabei haben wir erst knapp die Hälfte des Weges hinter uns. Ungefähr zweieinhalb Kilometer hinter dem Dorf Amenal kehren wir hinter einem Kreisel in einer Autoraststätte ein und bleiben dort etwa eine Stunde in der Hoffnung, dass der Regen uns überholt.
Er tut uns den Gefallen. Bei mäßigem Sonnenschein zockeln wir auf der Straße weiter durch die Orte San Paio und Labacolla, vorbei an den Ausläufern des Flughafens von Santiago. Von hier werden wir zurück nach Deutschland fliegen. Ich wünschte, es wäre schon so weit, denn ich kann nicht mehr und reiße mich bloß zusammen, weil ich es Pit versprochen habe. Ich bin am Ende und völlig überfordert, jeder Knochen tut weh, und meine Muskeln fühlen sich an wie Steine. Ich weiß nicht mehr, was ich hier mache. Alles Schöne der vergangenen Wochen hat das Gewitter mit sich fortgerissen. Mein eigener Mann ist mir unverständlich und fremd. Es gibt kein Miteinander, keine Nähe, keine Lösungen. Ich habe den Eindruck, dass er vieles, vielleicht sogar das meiste von dem, was wir miteinander durchdacht und besprochen haben, verstanden hat. Aber vom Verstehen zur gelebten Umsetzung scheint es ein weiter Weg zu sein, und ich habe keine Kraft, auch noch diese Strecke zu ihm hin zurückzulegen. Obwohl Santiago unmittelbar vor uns liegt, ist es, als stünden Pit und ich miteinander ganz am Anfang.
Der Camino ist eine Metapher für unsere Ehe. Mir kommt es so vor, als hätte sich alles umgekehrt: aus meiner Sehnsucht ist die Erfüllung von Pits Wünschen geworden, und ich bin ihm um der Gemeinsamkeit willen gefolgt — so wie auch zu Hause. Manchmal scheint es gut zu gehen, manchmal scheint Hoffnung aufzublitzen, so wie an manchen Sonnentagen auf dem Camino, so wie in manchen guten Gesprächen und fröhlichen Erlebnissen. Aber diese Hoffnung ist so zerbrechlich. Sie hat keinen Boden. Da ist nichts, worauf man trauen kann. Sobald ich glaube, Schritte nach vorne geschafft zu haben, muss ich feststellen, dass sie mich nur dorthin geführt haben, wo ich losgegangen bin: zurück an den Anfang. Es ist frustrierend und ermüdend.
Ich möchte mich in den Graben am Wegesrand rollen und sterben, niemals wieder aufstehen, keine einzige Bewegung, keinen einzigen Atemzug mehr machen müssen, endlich leicht und frei und ohne Pit sein und auch ohne dieses ganze anstrengende Leben. Aber ich gehe weiter, setzte einen Fuß vor den anderen, genauso wie Pit, der sich vor Schmerzen kaum noch bewegen kann.
Endlich, nach 37 Kilometern strammem Marsch durch Matsch und Unwetter, knappe fünf Kilometer vor unserem Ziel, knickt Pit am Monte de Gozo, am Pilgerdenkmal vor Santiago, ein. Nun ist auch seine Grenze erreicht. Noch klettert er zu dem gewaltigen Monument hinauf. Ich setze mich auf ein Mäuerchen am Fuß des Berges, schaue ihm hinterher und denke: Das war’s: Ich mache nicht mehr mit, ab jetzt trennen sich unsere Wege.
Am Monte de Gozo gibt es eine Pilgerherberge, riesig wie ein Flüchtlingslager und durchorganisiert wie ein Krankenhaus. Pit möchte die Nacht hier verbringen, ich nicht. Ich treibe es auf die
Spitze: Ich muss heute in Santiago ankommen, egal wie, denn dieses Massenquartier als Endpunkt unseres Pilgerdaseins ist für mich völlig unakzeptabel. Eine Nacht in dieser Kaserne würde alle meine guten und schlechten Herbergserfahrungen über den Haufen werfen, sie null und nichtig machen, so, als hätte ich das alles nur geträumt, und
Weitere Kostenlose Bücher